Die Entwicklung von Mehrsprachigkeit und mögliche Einflussfaktoren

Inhaltsverzeichnis

  1. Spracherwerb bei Mehrsprachigkeit
  2. Erwerbsaufgabe – was das Kind lernen muss
  3. Simultaner bzw. bilingualer Erstspracherwerb
  4. Früher Zweitspracherwerb
  5. LITERATUR

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Spracherwerb bei Mehrsprachigkeit

In diesem Beitrag geht es einerseits um die Entwicklung von Mehrsprachigkeit allgemein, andererseits wird in Anbetracht der eingangs geschilderten Situation besonders der Erwerb des Deutschen bei Kindern mit nichtdeutscher Erstsprache fokussiert. Migrationsbedingte Mehrsprachigkeit wird als eine Kombination aus Kenntnissen in der nach der Geburt im Familienkreis zuerst erlernten Sprache (Primarsprache/L 1, siehe unten) und der in der Gesellschaft gesprochenen Sprache (L 2) beschrieben (Dollmann & Kristen 2010).

Spracherwerb bedeutet nach Ritterfeld (2000), sich innerhalb von wenigen Jahren ein Symbolsystem anzueignen, mit dessen Hilfe ein Kind im Stande ist, auch losgelöst von der aktuellen Situation, konkreten Handlungen, Gegenstanden und Sachverhalten zu kommunizieren. Dies gilt für ein- wie auch mehrsprachige Kinder gleichermaßen. Dieser nicht leichten Aufgabe wenden sich Kinder automatisch zu. Die überwiegende Zahl von ihnen meistert den Spracherwerbsprozess in einer oder mehreren Sprachen unter unterschiedlichsten kulturellen und sozialen Bedingungen problemlos. Kinder erwerben die Sprache ihrer jeweiligen Umgebung dabei aktiv und scheinbar mühelos, wenn sie als Sauglinge und Kleinkinder in qualitativ wie quantitativ hinreichendem Mas sprachlichen Input erhalten. Durch zunehmende Sprachbeherrschung sichern sie sich die Teilhabe am sozialen, kulturellen und politischen Leben der Gesellschaft sowie an deren Bildungsangeboten (vgl. Roos 2011).

Von der biologischen Ausstattung her gibt es prinzipiell keine Begrenzung für die Anzahl der Sprachen, die ein Mensch lernen kann; auch nicht, wenn dies von Anfang an geschieht. Treten beim gleichzeitigen Erwerb von mehr als einer Sprache Probleme auf, so ist zunächst an noch nicht ausreichende Lerngelegenheiten, zu geringen Input oder andere erschwerende Bedingungen im Umfeld zu denken. In Betracht gezogen werden muss bei andauernden Schwierigkeiten aber auch eine spezifische Sprachentwicklungsstörung (SSES).
Wie auch im monolingualen Erwerb wird für eine SSES bei mehrsprachigen Kindern eine genetische Prädisposition angenommen (Paradis et al. 2011). Demzufolge sollten ca. sechs bis zehn Prozent aller mehrsprachigen Kinder von einer SSES betroffen sein, also genau der gleiche Anteil wie bei einsprachig aufwachsenden Kindern. Entscheidend dabei ist, dass nicht die Mehrsprachigkeit die Störung verursacht; auch sind die Struktur einer bestimmten Erstsprache bzw. bestimmte Kombinationen nicht mit einem höheren Risiko für eine SSES assoziiert. Eine SSES wirkt sich aufgrund der angeborenen Schwierigkeiten in der Verarbeitung und Repräsentation sprachlicher Informationen auf alle zu erwerbenden Sprachen aus.

Trotz ihrer biologischen Grundlage kann Sprache nicht unabhängig von der Lebensumgebung erworben werden. In Abhängigkeit vom jeweils umgebenden kulturellen Kontext lernt das Kind eine unterschiedliche „Muttersprache“ (fachsprachlich neutraler: Erst- bzw. Primarsprache, Language one = L 1, im Gegensatz zum Erwerb einer Zweit-, Drittsprache usw. oder auch Fremdsprache, L 2, L 3 usw., in der Kindheit, child = c, oder als erwachsene Person, adult = a = cL 1 / aL 2 usw.), die den sprachlichen Besonderheiten der jeweiligen Umgebung entsprechen, in der es aufwächst.

In den ersten Lebensmonaten nimmt das Gehirn vor allem die lautlichen Eigenschaften einer Sprache, ihre Wörter und Satze auf, ohne dass ein bewusster Lernprozess stattfindet. Im Falle zweier Sprachen, die bereits nach der Geburt angeboten werden, wird dies „doppelter Erstsprachenerwerb“ genannt. Die Bedingungen dafür sind am Beginn der Sprachentwicklung besonders günstig: Können Babys zunächst rund 200 Laute (und damit alle prinzipiell möglichen) unterscheiden, beginnt das Gehirn bereits in den ersten zwölf Monaten seine Differenzierungsfähigkeit für nicht muttersprachliche Laute allmählich zu verlieren und fokussiert sich zunehmend auf diejenigen der Umgebungssprache, im Deutschen sind dies rund 40 Laute. Die Sensibilitat für alle möglichen Lautunterschiede geht zugunsten einer möglichst effektiven Verarbeitung der Laute der Umgebungssprache(n) verloren und die Sprachwahrnehmung spezialisiert sich auf die in der Umgebung angebotenen Sprache(en).

Der Zeitpunkt (age of onset), an dem ein Kind mit dem Erwerb einer weiteren Sprache beginnt (L 2, L 3 usw.) beeinflusst entscheidend das Erwerbsmuster dieser weiteren Sprache (Meisel 2009; Schulz & Grimm 2012). In vielen Studien ist es daher ein zentraler Faktor. Anders als im Erstspracherwerb ist das Alter der Lernenden nicht identisch mit der Kontaktdauer (lenght of exposure), der Länge des systematischen Kontaktes mit einer Sprache. Beschränkt man die Überlegungen zur Vereinfachung auf zwei Sprachen, kann ein Kind

  1. beide Sprachen von Geburt an erwerben (2 L 1 = doppelter Erstspracherwerb) oder
  2. die zweite Sprache lernen, nachdem Teile oder wesentliche Aspekte der Erstsprache bereits erworben sind.

Erwirbt ein Kind von Geburt an gleichzeitig mehr als eine Sprache oder beginnt der Erwerb einer zweiten Sprache im Alter von bis zu zwei Jahren, spricht man von einem simultanen (bilingualen) Erwerb (auch doppelter Erstspracherwerb). Es spricht einiges dafür, den simultanen Erwerb auf diesen Zeitraum zu begrenzen, denn bis zum Ende des zweiten Lebensjahres sind viele Entwicklungsschritte auch in der Erstsprache noch nicht vollzogen (vgl. Chilla, Rothweiler, Babur 2013).

Über andere Voraussetzungen für den Spracherwerb verfügen dagegen Kinder, die im Alter von zwei bis vier Jahren mit dem Erwerb einer zweiten Sprache beginnen (frühe kindliche Zweitsprachlerner/innen). Bei diesen Kindern beginnt der Zweitspracherwerb zu einem Zeitpunkt, zu dem sie ihre Erstsprache in der Regel in Grundzügen erworben haben. Beginnen Kinder nach diesem Alter mit dem Erwerb einer zweiten Sprache, spricht man von spaten Zweitsprachlernern. Die Altersangaben sind eher grob und in der Grundlagenforschung viel diskutierte Richtwerte, u. a. weil für unterschiedliche Bereiche der Sprache andere Schwellen gelten können, z. B. für Lautsystem oder Lexikon (vgl. dazu Haberzettl 2014). Man bezeichnet beide Erwerbstypen als sukzessiv bilingualen Erwerb. Auf Deutschland bezogen wachsen solche Kinder beispielsweise mit einer nicht-deutschen Erstsprache auf.

Unterschieden wird darüber hinaus zwischen natürlicher bzw. ungesteuerter und gesteuerter Mehrsprachigkeit. Natürliche Mehrsprachigkeit liegt vor, wenn die Sprachen durch den alltäglichen Umgang mit überwiegend primarsprachlichen Bezugspersonen, also in einer natürlichen Umgebung, erworben werden. Erfolgt der Erwerb der zweiten oder dritten Sprache durch systematischen Unterricht, spricht man von gesteuerter Mehrsprachigkeit. Nicht selten vermischen sich beide Formen (z. B. durch den Eintritt in die Grundschule).

Aufgrund der vielen Erwerbsmöglichkeiten (unterschiedliche Bedingungen, Familienkonstellationen, Zeitraume, etc.) geht man heute davon aus, dass Mehrsprachigkeit eher als Dimension zu betrachten ist, denn als Kategorie, der man angehören kann oder nicht. Ob jemand als mehrsprachig zu bezeichnen ist, kann sich im Laufe des Lebens andern, ebenso wie Dominanz der einen oder anderen Sprache oder das Kompetenzniveau.

Sofern Deutsch nicht die Erstsprache ist, setzt der systematische Erwerb des Deutschen häufig mit dem Eintritt in eine Betreuungs- bzw. Kindertageseinrichtung ein. In diesem Zusammenhang erfolgt der Erwerb dann entweder simultan (Eintritt in eine Kindertageseinrichtung im Laufe des ersten oder ab dem ersten Lebensjahr bis zum Beginn des zweiten Lebensjahres) oder sukzessiv (Eintritt in eine Kindertageseinrichtung nach dem zweiten Lebensjahr). Je früher der Erwerb beginnt desto besser: ein simultaner Erwerb sowie der frühe sukzessive Erwerb (bis zum Alter von vier Jahren) haben gute Chancen auf eine „native-like-competence“ bzw. ein annähernd primarsprachliches Kompetenzniveau.

Auch neuere Ergebnisse aus der Hirnforschung legen nahe, dass die Bedingungen für den Erwerb mehrerer Sprachen am Beginn der Sprachentwicklung besonders günstig sind und der Erwerb mehrerer Sprachen möglichst früh einsetzen sollte. Je später der sukzessive Erwerb erfolgt, desto eher bleiben Fehler/Fossilierungen erhalten, wobei im Deutschen insbesondere die Flexionsmorphologie und die Artikel, allgemein auch die Aussprache betroffen sind. Der Erwerb nach dem zehnten Lebensjahr bzw. nach der Pubertät ähnelt dem Zweitspracherwerb im Erwachsenenalter.

In den letzten Jahren widmen sich Forschungsbemühungen verstärkt dem frühen kindlichen Zweitspracherwerb des Deutschen. Einigkeit herrscht darüber, dass der Erwerb der Umgebungs- und Bildungssprache Deutsch vor Schulbeginn anzustreben ist. Den Kindertagesstätten kommt damit eine entscheidende Bildungsaufgabe zu: die Bildung und Forderung von Kommunikations- und vertieften sprachlichen Fähigkeiten in der deutschen Sprache für alle Kinder, insbesondere aber auch für Kinder, deren Familiensprache nicht Deutsch ist. Dieser politischen Option kommt größte Dringlichkeit zu. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass gerade zu dieser spezifischen frühen teils simultanen teils sukzessiven Sprachlernsituation der Fundus an direkt einschlägigen gesicherten grundlagenwissenschaftlichen Erkenntnissen wachst.
Häufig besteht in der Praxis dennoch Unklarheit darüber, wie die Entwicklung von Mehrsprachigkeit von statten geht und wie sie durch adäquate Bildungsangebote und gegebenenfalls Forderung umzusetzen ist. Bei pädagogischen Fachkräften besteht auch nach wie vor Unsicherheit im Hinblick auf die Einschätzung und Bewertung des Sprachentwicklungsstandes mehrsprachiger Kinder sowie bei der Planung und Durchführung von Sprachbildungs- und insbesondere Fördermaßnahmen. Umso wichtiger ist es, dass sie über den Erwerb mehrerer Sprachen adäquat Bescheid wissen.


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