Neurobiologie im Säuglingsalter

Entstehung von Stressbelastungen und Ressourcen

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorgeburtliche Erfahrungen prägen die spätere Stressbewältigung
  2. Das Stresssystem wird epigenetisch geprägt
  3. Nachgeburtlich erhält das Kind Unterstützung bei der Regulation der Stressantwort
  4. Oxytocin prägt die emotionale Entwicklung
  5. Schwierige Kinder brauchen die liebevolle Fürsorge mehr als andere
  6. Jenseits der frühen Kindheit

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Die Gene und die frühen Erfahrungen eines Kindes prägen die Entwicklung seines Gehirns, seines Temperamentes und seiner späteren Persönlichkeit. Sie prägen, ob es sich zu einem schüchternen oder gar sozial gehemmten, zu einem impulsiven oder auch risikobereiten Menschen entwickelt. Gene und Erfahrungen beeinflussen zudem die Fähigkeit, mit späteren Stressbelastungen umgehen zu können und das Risiko, psychische Erkrankungen oder Verhaltensstörungen zu entwickeln.

Aber wie können sich Gene auf die Hirnentwicklung auswirken? Und wie kann so etwas Immaterielles wie Erfahrungen auf das Gehirn mit seinen Zellen und Molekülen einwirken und wie können Zellen und Moleküle Temperament und psychische Eigenschaften hervorbringen? Um das zu erklären, beginnen wir einmal mit einer noch grundsätzlicheren Frage: Worin unterscheiden sich menschliche Gehirne überhaupt?


Individuelle Nervenzellnetzwerke und individuelle Stoffsysteme

Immer wenn wir fühlen, denken oder handeln und auch dann, wenn wir (fälschlicherweise) glauben, nun gerade nichts zu tun, sind im Gehirn zahlreiche Netzwerke von Nervenzellen aktiv. Schaltkreise aus weit entfernten und benachbarten Zellen werden durch all das, was in uns und um uns herum vorgeht, aktiviert. Sensorische Informationen aus der Umwelt treffen ein, werden miteinander assoziiert und in einen Zusammenhang mit Informationen aus dem Inneren des Körpers, mit Informationen über gewohnheitsmäßige Verhaltensmuster oder explizite Erinnerungen an vorangegangene Situationen gebracht. Die Informationen werden dabei häufig über chemische Synapsen von einer Zelle zur nächsten übertragen. Viele Zellen verwenden für diese chemische Kommunikation schnell wirksame Neurotransmitter wie Glutamat, Glycin oder GABA.

Menschen unterscheiden sich nicht nur darin, wie ihre Nervenzellen miteinander verschaltet sind, sondern auch in dem Ausmaß, mit dem ihre Nervenzellen von weiteren Stoffen, den sogenannten Neuromodulatoren beeinflusst werden. Diese Stoffe werden beispielsweise dann ausgeschüttet, wenn die Umwelt oder unsere eigenen Bedürfnisse erfordern, dass das Gehirn bzw. bestimmte Teile des Gehirns besonders schnell oder anhaltend reagieren, z. B. weil etwas besonders wichtig oder potentiell gefährlich ist. Das kann sich dabei um eine komplizierte Verkehrssituation, eine bedrohliche zwischenmenschliche Situation oder auch um einen sportlichen Wettkampf handeln.

Entdeckt das Gehirn Hinweise auf entsprechende Situationen, werden diese modulatorischen Stoffe von spezialisierten, häufig in Strukturen des Hirnstamms oder des Mittelhirns lokalisierten Zellen produziert und meist über Nervenfasern an verschiedene Bereiche des Gehirns verteilt. Dort angekommen, binden die Stoffe an ihre Bindungsstellen, ihre sogenannten Rezeptoren, und beeinflussen die Aktivität anderer Nervenzellen. Und zwar derjenigen Nervenzellen, die gerade mit der Welt um uns herum und den eigenen Bedürfnissen beschäftigt sind. Die Stoffe modulieren, wie wir die Informationen bearbeiten. So kann das Gehirn in gefährlichen Situationen in einen sehr reaktiven Zustand versetzt werden, den wir als „wachsam“ bezeichnen. Die Stoffe machen uns wachsam, aufmerksam, motiviert, flexibel oder euphorisch.

Eigenschaften wie Wachsamkeit, Aufmerksamkeit oder auch die Motivation, sich im sozialen Miteinander auf andere einzulassen, sind – wie wir alle wissen – nicht bei jedem Menschen gleich ausgeprägt. Das liegt unter anderem daran, dass s ich Menschen darin unterscheiden, wie viel von diesen Stoffen in ihren Gehirnen wirksam ist. Sie unterscheiden sich darin, wie gut diese Stoffe abgebaut oder nach ihrer Wirkung wieder zurück in die Zelle transportiert werden, und auch in der Anzahl der Bindungsstellen für diese Stoffe. Der eine Mensch entwickelt daraufhin ein höchst effizientes Cortisolsystem, ein anderer ein herausragend funktionierendes Oxytocinsystem und ein dritter beides.

Gene und Erfahrungen bilden die Grundlage für eine individuelle Hirnentwicklung
Aber wie entstehen diese Unterschiede? Erster Kandidat: Die Gene. Die verschiedenen Vorgänge im Körper (einschließlich derjenigen im naturgemäß dazugehörenden Gehirn) werden, wie wir wissen, durch Gene gesteuert. Die Gene codieren für die verschiedenen Proteine. Dazu gehören auch Proteine, die beschriebene Neuromodulatoren binden und deren Wirkung vermitteln und die diese Stoffe zurück in die Zelle transportieren oder sie etwa abbauen.

Die für diese Proteine codierenden Gene liegen häufig in verschiedenen Formen vor (Polymorphismen). Es werden deshalb bei einigen Menschen mehr und bei anderen weniger oder auch unterschiedliche Bauformen dieser speziellen Proteine gebildet. Die von den Proteinen gesteuerten Prozesse funktionieren daraufhin mehr oder weniger effektiv.

Nehmen wir das häufig beschriebene Gen für den Serotonintransporter. Serotonin ist ein modulatorischer Stoff, zu dessen Wirkungen es gehört, uns weniger impulsiv und stattdessen flexibel und zielorientiert reagieren zu lassen (Worbe et al 2015). Kommt es im Gehirn zu einer Freisetzung von Serotonin in den synaptischen Spalt zwischen den Nervenzellen, dann muss es anschließend über ein Transporter-Protein wieder zurück in die Zelle befördert werden. Ein Bereich des für diesen Transporter codierenden Gens kann in unterschiedlichen Formen vorliegen. Menschen unterscheiden sich deshalb darin, wieviel Serotonintransporter-Protein produziert wird, wie effizient der Rucktransport funktioniert und wieviel Serotonin für eine Wirkung im Spalt verbleibt. Und hierüber, wie gut Serotonin im Alltag die Hirnaktivität und unser Verhalten moduliert.

Hinzu kommt, dass Serotonin ganz erheblich die Hirnentwicklung beeinflusst, und zwar sowohl die Entwicklung des serotonergen Systems selbst als auch derjenigen Gewebe, in denen die Fasern der serotoninfreisetzenden Zellen enden (z. B. Gaspar et al. 2003). Insbesondere diese Wirkung auf die Entwicklung scheint dafür verantwortlich zu sein, dass das genetisch bedingt individuelle Ausmaß der Serotoninfunktion in einem Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen steht (Ansorge et al. 2007). Es wurde nämlich beobachtet, dass Menschen mit einembestimmten Allel des Gens für den Serotonintransporter auf negative Lebensereignisse eher mit Depressionen oder Selbstmordgedanken reagieren als Individuen, die von beiden Elternteilen eine andere Genvariante geerbt haben (Caspi et al. 2003b). Die eigenen Gene beeinflussen über diese Wirkung die Neigung eines Menschen, infolge von Stressbelastungen psychische Erkrankungen zu entwickeln.

Ähnliches gilt auch für andere Gene, für weitere Gene des Serotoninsystems ebenso wie für Gene anderer Stoffsysteme. Die Gene geben vor, wie gut die Stoffsysteme funktionieren. Und die Stoffsysteme beeinflussen die Hirnentwicklung oder auch die akute Hirnaktivität, das Erleben, das Verhalten und das Risiko für psychische Erkrankungen und Verhaltensstörungen. Eine Variante für den Oxytocinrezeptor beeinflusst etwa, wie gut sich ein Mensch in Stresssituationen von anderen trösten lässt und ob er seinen Mitmenschen empathisch gegenübertritt oder eher gefühlsarm durch die Welt geht (für eine Übersicht siehe Kumsta und Heinrichs 2013).

Aber auch Erfahrungen, unser zweiter Kandidat, sind an der Entstehung des individuellen Temperaments erheblich beteiligt. Dieser Einfluss beginnt bereits vorgeburtlich.


Vorgeburtliche Erfahrungen prägen die spätere Stressbewältigung

Vorgeburtlich spielen vor allem die Stresserfahrungen der Mutter eine große Rolle. Es geht hierbei nicht um die Anzahl zu beantwortender E-Mails, sondern um chronischen und unkontrollierbaren Stress der Mutter. Um erheblichen Partnerkonflikt, Krankheit oder Tod eines Nahestehenden, Naturkatastrophen, Krieg oder auch um Angststörungen oder Depressionen der Mutter. In unzähligen Studien wurde ein Zusammenhang vorgeburtlichen Stresses mit verschiedenen späteren Eigenschaften gefunden.

Dazu gehören eine größere Neigung zu emotionalen Problemen, zu aggressivem Verhalten, zu Aufmerksamkeits- oder Lernschwierigkeiten, aber auch ein erhöhtes Risiko für spätere Fehlregulationen wesentlicher physiologischer Eigenschaften (für eine Übersicht siehe Weinstock 2008).

So haben junge Erwachsene, die vorgeburtlich Stress erlebten, im Mittel einen erhöhten Body-Mass-Index sowie eine veränderte Funktion von Immunsystem und endokrinem System. Es scheint jedoch so zu sein, dass – abgesehen von extremen Fallen – die vorgeburtliche Stresserfahrung nicht selbst Erkrankungen verursacht, sondern stattdessen das Risiko für spätere Erkrankungen erhöht. Und zwar deshalb, weil der vorgeburtlich gestresste Mensch häufig anders auf spätere potentiell krankmachende Risikobedingungen reagiert als der vorgeburtlich nicht gestresste Mensch (Entringer et al. 2015).

Dieser Beobachtung scheint der Umstand zugrunde zu liegen, dass vorgeburtlich die langfristige Funktion des Stressverarbeitungssystems geprägt wird. Diesem System werden verschiedene Stoffe zugerechnet, etwa das Noradrenalin oder auch das Cortisol. Das Stressverarbeitungssystem wird immer dann aktiv, wenn der Körper hohen Anforderungen gegenübersteht, wenn er also Stress bewältigen muss. Der Blutdruck wird erhöht, die Herzfrequenz gesteigert, Energie mobilisiert und die Leistungsfähigkeit des Körpers durch diese und weitere Maßnahmen erhöht. Insbesondere das Cortisol erhöht zudem auch die Fähigkeit, mit psychosozialem Stress umzugehen, indem es nämlich eine Energiezufuhr an das Gehirn unterstutzt (Peters et al. 2004).

Erlebt eine werdende Mutter Stress, dann wird in ihrem Körper Cortisol freigesetzt. Dies wiederum kann das sich entwickelnde kindliche Cortisolsystem langfristig beeinflussen. Es wird eingestellt, ob dieses Stresshormon bei hohen Umweltanforderungen sofort und anhaltend ausgeschüttet wird und ob es vielleicht sogar in Abwesenheit augenscheinlichen Stresses vermehrt freigesetzt wird.



Das Stresssystem wird epigenetisch geprägt

Aber wie kann ein Stresssystem dauerhaft geprägt werden? Hier tritt eine Gen-Umwelt-Wechselwirkung auf: Die Umwelt (die mütterlichen Stresshormone) wirken sich auf die kindlichen Gene bzw. deren Aktivität aus, und zwar auf die Gene von Proteinen, die zum Stresssystem gehören.

Da hierbei die Genaktivitat, nicht aber der genetische Code selbst modifiziert wird, spricht man von einem epigenetischen Mechanismus. Abschnitte der DNA werden mithilfe molekularer Mechanismen so markiert, dass die DNA zukünftig besser oder schlechter abgelesen werden kann und entsprechend mehr oder weniger Protein produziert wird. Ein Mechanismus ist etwa die Methylierung: Methylgruppen werden an der DNA angebracht und verhindern das Ablesen der Geninformationen und die Ausbildung von Proteinen. In einer 2015 veröffentlichten Meta-Analyse wurde bestätigt, dass der vorgeburtliche Stress die Genaktivität über einen solchen epigenetischen Mechanismus beeinflussen kann. Vermutlich infolge der erhöhten Cortisolkonzentration im Blut des Fötus werden Methylgruppen am Gen für eine Bindungsstelle des Cortisols, den Glucocorticoidrezeptor, angebracht und das Gen daraufhin stillgelegt (Palma-Gudiel et al. 2015).

Normalerweise wird bei Bindung von Cortisol an den Rezeptor über eine Feedbackhemmung die Freisetzung weiteren Cortisols gehemmt. Dadurch wird erreicht, dass die Stressreaktion in Maßen verläuft. Funktioniert dies schlecht, weil das Gen epigenetisch methyliert ist, kann eine langfristig erhöhte Cortisolfreisetzung bzw. eine verstärkte Stressreaktion die Folge sein. Aber auch eine dauerhaft gegenüber dem Normwert verringerte Cortisolfreisetzung ist infolge vorgeburtlicher Stresserfahrungen möglich. Auf diesem Wege kann vorgeburtlicher Stress vorgeben, wie das Stresssystem eines Menschen langfristig funktioniert. Wie schnell ein Mensch sich aufregt oder abregt und ob er in Situationen hoher Anforderungen Energieressourcen hat, um angemessen mit dem Stress umzugehen oder nicht. Und auch das Ruheniveau der Freisetzung von Stresshormonen in Abwesenheit hoher Anforderungen der Umwelt wird eingestellt.



Nachgeburtlich erhält das Kind Unterstützung bei der Regulation der Stressantwort

Zum Zeitpunkt seiner Geburt ist der Säugling je nach genetischer und vorgeburtlicher Belastung ausgeglichen, gehemmt oder reizbar. Zu den Entwicklungsaufgaben der ersten Lebensjahre gehört auch die Herausbildung eines differenzierten Systems zur Identifikation, Kategorisierung und Regulationvon Emotionen.

Im Gehirn werden Emotionen, die differenzierten Emotionen eines Erwachsenen ebenso wie das unspezifische Unbehagen eines Säuglings, tief im Inneren des Gehirns erzeugt. Hirnstrukturen wie die Amygdala registrieren beispielsweise potentiell bedrohliche Reize. Sie aktivieren das Stresssystem und sorgen für ein Gefühl der Furcht. Auch das Schreien des Babys wird schriller, so dass es schnell Hilfe erhält. Mit zunehmender Reifung des Gehirns werden auch Bereiche der mittleren vorderen Hirnrinde in die Verarbeitung emotionaler Informationen eingebunden. Bei Erwachsenen ist in diesen Verbindungen die differenzierte Bewertung der emotionalen Situation gespeichert. Die Hirnbereiche setzen das Erlebte in einen Kontext mit vorangegangenen Erfahrungen und hemmen gegebenenfalls (dann, wenn etwas doch nicht so schlimm ist) über eine Verbindung der Hirnrinden-Nervenzellen zur Amygdala deren Aktivität. Beim Baby ist weder diese Hirnregion noch ihre Verbindung zur Amygdala ausgereift.

Der Säugling benötigt deshalb nicht nur Unterstützung, wenn er Nahrung, Kleidung oder Stimulation benötigt, sondern auch dann, wenn sein Stresssystem hochaktiv ist – etwa, weil Bedürfnisse nicht sofort befriedigt werden können, oder weil ihm einfach alles zu viel ist. Er benötigt eine liebevolle und fürsorgliche Bindungsperson, die ihn tröstet, ihn wiegt und trägt, die mit ihm spricht, die seine noch undifferenzierten Unwohlsein-Emotionen aufgreift, spiegelt und benennt. In ihrem Beisein erfährt das Stresssystem Beruhigung und der Säugling lernt nach und nach, dass es verschiedene Emotionen gibt und dass man diese auch regulieren kann (für eine Übersicht siehe Struber 2016).



Oxytocin prägt die emotionale Entwicklung

Für diese Wirkung der elterlichen Fürsorge spielt der Stoff Oxytocin eine große Rolle. Beim Stillen, beim Kuscheln, beim liebevollen Miteinanderreden, in der späteren Kindheit sogar beim Telefonieren, wird im kindlichen Gehirn Oxytocin freigesetzt. Oxytocin bindet an seine Rezeptoren im Gehirn und hemmt die Stressreaktion des Körpers. Das Kind beruhigt sich.

Diese stresshemmende Wirkung des Oxytocins wurde in verschiedenen Studien demonstriert: So wurden etwa sieben bis zwölf Jahre alte Mädchen einer sozialen Stresssituation ausgesetzt und ihre anschließende Sekretion von Cortisol und Oxytocin untersucht. Es wurde deutlich, dass sich diejenigen Mädchen, die körperlichen oder telefonischen Kontakt zu ihrer Mutter haben durften, viel Oxytocin ausschütteten und ihre Cortisolfreisetzung schnell reduziert wurde. Mädchen hingegen, die nach der Stresssituation alleine waren, wiesen keine verstärkte Oxytocin-Freisetzung auf. Ihre Cortisol-Ausschüttung hingegen war anhaltend erhöht (Seltzer et al. 2010).

Auch bei Präriewühlmäusen wurde ein solches Muster gefunden, und zwar im Miteinander mit dem Partner, nicht mit der Mutter. Die Präriewühlmäuse wurden eine Stunde lang gestresst und waren auch danach noch ängstlich und gestresst – zumindest hatten sie eine hohe Stresshormonfreisetzung. Durften sie sich allerdings gemeinsam mit ihrem Partner vom Stress erholen, dann schütteten sie viel Oxytocin aus und waren relativ entspannt. Eine experimentelle Blockade der Bindungsstellen des Oxytocins mit Hilfe eines anderen Stoffes hingegen verhinderte den Effekt der sozialen Stressdämpfung (Smith und Wang 2014).

Oxytocin scheint jedoch nicht nur akut das kindliche Stresssystem zu hemmen, sondern konnte auch die emotionale Entwicklung nachhaltig fordern. Zumindest wird dies durch Experimente mit erwachsenen Versuchspersonen nahegelegt. Wird nämlich Oxytocin per Nasenspray verabreicht, dann verstärkt dies die Verbindung der für die kontextgerechte Verarbeitung von Emotionen und deren Regulation wichtigen vorderen Hirnrinde mit tief gelegenen und unbewusst arbeitenden Hirnstrukturen wie der Amygdala (Sripada et al. 2013).

Um die mögliche Bedeutung dieser Wirkung für die Hirnentwicklung zu verstehen, muss man um eine grundsätzliche Eigenschaft der Hirnentwicklung wissen, und zwar um die nutzungsabhängige Reifung. In der vorgeburtlichen und früh nachgeburtlichen Entwicklung des kindlichen Gehirns werden die Nervenzellen zunächst übermäßig miteinander verschaltet. Diejenigen Synapsen, die immer wieder genutzt bzw. aufgrund von Erfahrungen aktiviert werden, stabilisieren sich und ermöglichen eine zukünftig effiziente Weiterleitung von Informationen, während andere, ungenutzte Synapsen abgebaut werden. Die Erfahrungen des Kindes entscheiden also über das dauerhafte Schicksal von Synapsen. Werden im fürsorglichen Miteinander immer wieder Babys Emotionen gespiegelt und mit Worten benannt, können infolge der hohen Nutzung stabile Netzwerke zur differenzierten emotionalen Verarbeitung entstehen.

Solche Nervenzellen, die in emotionalen Situationen, beispielweise einer wahrgenommenen Bedrohung durch einen Fremden, physiologische Vorgange im Inneren des Kindes (z. B. Herzklopfen, das Muskelspiel bei der Mimik oder die Ausschüttung wohltuender Endorphine) rückmelden, werden mit Worten („Hast Du Angst?“) sowie mit dem visuellen Abbild des mütterlichen emotionalen Gesichtsausdrucks und weiteren Informationen verknüpft. Es werden stabile Nervenzellnetzwerke als Grundlage emotionaler Kategorien gebildet. Das Kind lernt, die eigenen Emotionen zu identifizieren und zu benennen.

Wird durch das im Miteinander immer wieder ausgeschüttete Oxytocin nun auch noch die oben erwähnte regulierende Verbindung der vorderen Hirnrinde zur Amygdala gestärkt und durch regelmäßige Nutzung stabilisiert, dann könnte dies die Voraussetzung für die Herausbildung guter Fähigkeiten in der Regulation eigener Emotionen bilden (für eine Übersicht siehe Struber 2016).

Bleiben diese Erfahrungen aus, kann dies mit Schwierigkeiten bei der Erkennung, der Benennung und der Regulation eigener Gefühle einhergehen. Eine Gruppe von Psychologen verschiedener Londoner Universitäten fand ein solches Defizit beispielsweise bei neun bis 18 Jahre alten Mädchen, die aufgrund ihrer individuellen Bindungsgeschichte eine Trennungsangst oder Probleme mit zwischenmenschlicher Nähe entwickelt hatten (Oskis et al. 2013).
In einer weiteren nachhaltigen Wirkung scheint das frühe Ausmaß der Oxytocinfreisetzung beeinflussen zu können, wie die Stoffsysteme im Gehirn des Kindes langfristig arbeiten. Je nachdem, wie liebevoll, feinfühlig und zuverlässig die frühe Fürsorge des Kindes ist, steht sein Gehirn mehr oder weniger unter dem Einfluss von Oxytocin oder auch – bei eher geringer Fürsorge – von Stresshormonen wie Cortisol. Auch wenn das entsprechende Forschungsgebiet noch recht jung ist, gibt es Hinweise darauf, dass nicht nur während der Schwangerschaft, sondern auch nach der Geburt die frühen Konzentrationen von Stoffen wie Cortisol oder Oxytocin über einen epigenetischen Mechanismus festlegen, wie viele Bindungsstellen diesen Stoffen langfristig zur Verfügung stehen. Dies wiederum kann Auswirkungen darauf haben, wie gut diese modulatorischen Stoffsysteme langfristig funktionieren, und wie der Mensch im späteren Kindesalter oder auch als Erwachsener mit Stress umgeht und ob er motiviert ist, Bindungen einzugehen.


Schwierige Kinder brauchen die liebevolle Fürsorge mehr als andere

Die Unterstützung der emotionalen Entwicklung durch die Eltern ist umso wichtiger, je belasteter ein Kind durch seine Gene und seine vorgeburtlichen Erfahrungen ist. Hat das Kind ein hochaktives Stresssystem und verhalt es sich besonders ängstlich oder auch reizbar, dann ist es umso wichtiger, dass dieses Kind fürsorgliche Hilfe bei der Regulation seiner überschießenden Emotionen erhält. Wurde dieses Kind nicht feinfühlig in seiner Stressregulation unterstützt, wäre sein kleines Gehirn immer wieder hohen Konzentrationen von Stresshormonen ausgesetzt (für eine Übersicht siehe Strüber 2016).

Gleichzeitig ist der Umgang mit dem gestressten Säugling umso schwieriger für die Bindungsperson. Der Säugling schreit schrill, laut und vor allem ausdauernd. Die Bindungsperson erlebt nur selten den beglückenden und belohnenden Moment, mit Erfolg beruhigend auf das Kind eingewirkt zu haben. Sie erlebt sich selbst als ineffizient und hilflos und es gelingt ihr immer seltener, feinfühlig auf das Kind einzugehen (Ghera et al. 2006). Nicht selten entstehen hier Teufelskreise sich selbst aufrechterhaltender negativer Gegenseitigkeit, wie die Psychiaterin Mechthild Papousek in ihrem Buch über Regulationsstörungen der frühen Kindheit beschreibt (2004).

Womit wir bei einer zweiten Wechselwirkung von Anlage und Umwelt wären: Gemeinsam mit den vorgeburtlichen Erfahrungen legen die Gene (man konnte zusammenfassend von angeborenen, d. h. bei der Geburt vorhandenen Anlagen sprechen) fest, wie wichtig die nachgeburtlichen Erfahrungen sind. Für einige Kinder sind die frühen Fürsorgeerfahrungen aufgrund ihrer angeborenen Anlagen wichtiger als für andere. Es scheint so zu sein, dass sich diese Anfälligkeit der besonders reizbaren Kinder nicht nur auf negative Umwelterfahrungen beschränkt (und somit eine Vulnerabilität darstellt). Unter besonders positiven Bedingungen entwickeln sich diese Kinder nämlich häufig besonders gut (Belsky et al. 2007). Die Kinder, die aufgrund ihrer Gene und ihrer vorgeburtlichen Erfahrungen mit einem nicht optimal eingestellten Stresssystem auf die Welt kommen, benötigen hiernach umso mehr in ihrer frühen Kindheit eine liebevolle Fürsorge, die ihr Stresssystem zügelt und in Bahnen lenkt. Geschieht dies, scheinen diese Kinder die Reaktivität ihres Stresssystems gut nutzen zu können, um mit den hohen Anforderungen der Umwelt umgehen zu können.


Jenseits der frühen Kindheit

Die individuellen Gene und frühen Erfahrungen beeinflussen also, wie die Nervenzellen miteinander verschaltet werden und wie das Gehirn durch Stoffsysteme beeinflusst wird. Der Mensch, der in der frühen Kindheit eine sichere Bindungsbeziehung und entsprechend wenig Stress erlebt hat, hat gute Chancen darauf, ein gut funktionierendes Oxytocinsystem mit ausreichend Rezeptoren sowie ein gut funktionierendes Stresssystem zu entwickeln (für eine Übersicht siehe Strüber 2016).

Der positive Einfluss der frühen Bindungserfahrungen auf die Nervenzell-Verknüpfungen und die langfristige Einstellung der modulatorischen Stoffsysteme kann erklären, warum sich sicher gebundene Kinder häufig so gut entwickeln. In der oft zitierten Längsschnittstudie aus Minnesota zeigte sich etwa, dass Schulkinder, die auf eine sichere frühe Bindungsbeziehung zurückblicken können, sehr selbstständig und eigenverantwortlich sind, ihre Emotionen gut regulieren können, weniger ängstlich, gleichzeitig aber empathischer gegenüber anderen sind, neugierig, wissbegierig und flexibel auf ihre Umwelt reagieren und ein hohes Selbstwertgefühl haben (Sroufe 2005).

Eine zunehmend größer werdende Anzahl von Studien zeigt zudem, dass auch die Bindungsrepräsentation Erwachsener in einem Zusammenhang mit Fähigkeiten zu Stressbewältigung und Emotionsregulation steht (für Übersichten siehe Gander und Buchheim 2015). Werden erwachsene Versuchspersonen einer sozialen Stresssituation ausgesetzt (Trier Social Stress Test), dann berichten diejenigen mit einer sicher-autonomautonom|||||Autonomes Handeln beinhaltet den Zustand der Selbstständigkeit, Unabhängigkeit Selbstbestimmung, Selbstverwaltung oder Entscheidungsfreiheit.en Bindungsrepräsentation von nur wenig wahrgenommenem Stress. Sie reagieren mit einer hohen Oxytocinfreisetzung und einer moderaten Cortisolausschüttung auf die Situation. Personen mit anderen Bindungsklassifikationen, die auf eine unverarbeitete weniger optimale Bindungsgeschichte schließen lassen, erleben in dieser Situation einen größeren subjektiven Stress. Ihre Oxytocinfreisetzung in der Stresssituation ist verringert und auch ihre Cortisolantwort entspricht nicht derjenigen der Versuchspersonen mit einer sicheren Bindungsrepräsentation (Pierrehumbert et al. 2012).

Die frühen Erfahrungen können zudem die eigenen elterlichen Fähigkeiten beeinflussen und so dazu beitragen, dass Bindungsklassifikationen von einer Generation an die nächste übertragen werden. Erwachsene, die infolge ihrer Gene und ihrer eigenen Bindungsgeschichte ein sicheres inneres Modell von Bindungen entwickelt haben, reagieren auf das Miteinander mit ihren Säuglingen mit einer höheren Oxytocinantwort (Strathearn et al. 2009). Das Oxytocin hat auch im elterlichen Gehirn eine beziehungsfordernde Wirkung. Oxytocin verstärkt im Gehirn der Eltern die Anbindung kindlicher Reize an das Belohnungssystem und fuhrt so dazu, dass das Miteinander mit dem Kind als angenehm erlebt wird. Zudem vermindert es über eine Wirkung auf die Amygdala eigene aversive Reaktionen auf das Kind (etwa im Angesicht anhaltenden Schreiens) und fordert über einen Einfluss auf die anteriore Insula die empathische Reaktion der Mutter. Das Kind reagiert auf die feinfühlige und liebevolle Fürsorge ebenfalls mit einer hohen Oxytocinfreisetzung und baut eine sichere Bindungsbeziehung mit seinen Eltern auf. Begleitet von einer entsprechend optimalen emotionalen Hirnentwicklung bildet dies wiederum die ideale Grundlage für spätere eigene elterliche Fähigkeiten (für eine Übersicht siehe Rilling und Young 2014).



LITERATUR

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Übernahme des Beitrag mit freundlicher Genehmigung aus frühe kindheit 6-2017, S. 58-64


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