Neurobiologie im Säuglingsalter

Entstehung von Stressbelastungen und Ressourcen

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorgeburtliche Erfahrungen prägen die spätere Stressbewältigung
  2. Das Stresssystem wird epigenetisch geprägt
  3. Nachgeburtlich erhält das Kind Unterstützung bei der Regulation der Stressantwort
  4. Oxytocin prägt die emotionale Entwicklung
  5. Schwierige Kinder brauchen die liebevolle Fürsorge mehr als andere
  6. Jenseits der frühen Kindheit

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Oxytocin prägt die emotionale Entwicklung

Für diese Wirkung der elterlichen Fürsorge spielt der Stoff Oxytocin eine große Rolle. Beim Stillen, beim Kuscheln, beim liebevollen Miteinanderreden, in der späteren Kindheit sogar beim Telefonieren, wird im kindlichen Gehirn Oxytocin freigesetzt. Oxytocin bindet an seine Rezeptoren im Gehirn und hemmt die Stressreaktion des Körpers. Das Kind beruhigt sich.

Diese stresshemmende Wirkung des Oxytocins wurde in verschiedenen Studien demonstriert: So wurden etwa sieben bis zwölf Jahre alte Mädchen einer sozialen Stresssituation ausgesetzt und ihre anschließende Sekretion von Cortisol und Oxytocin untersucht. Es wurde deutlich, dass sich diejenigen Mädchen, die körperlichen oder telefonischen Kontakt zu ihrer Mutter haben durften, viel Oxytocin ausschütteten und ihre Cortisolfreisetzung schnell reduziert wurde. Mädchen hingegen, die nach der Stresssituation alleine waren, wiesen keine verstärkte Oxytocin-Freisetzung auf. Ihre Cortisol-Ausschüttung hingegen war anhaltend erhöht (Seltzer et al. 2010).

Auch bei Präriewühlmäusen wurde ein solches Muster gefunden, und zwar im Miteinander mit dem Partner, nicht mit der Mutter. Die Präriewühlmäuse wurden eine Stunde lang gestresst und waren auch danach noch ängstlich und gestresst – zumindest hatten sie eine hohe Stresshormonfreisetzung. Durften sie sich allerdings gemeinsam mit ihrem Partner vom Stress erholen, dann schütteten sie viel Oxytocin aus und waren relativ entspannt. Eine experimentelle Blockade der Bindungsstellen des Oxytocins mit Hilfe eines anderen Stoffes hingegen verhinderte den Effekt der sozialen Stressdämpfung (Smith und Wang 2014).

Oxytocin scheint jedoch nicht nur akut das kindliche Stresssystem zu hemmen, sondern konnte auch die emotionale Entwicklung nachhaltig fordern. Zumindest wird dies durch Experimente mit erwachsenen Versuchspersonen nahegelegt. Wird nämlich Oxytocin per Nasenspray verabreicht, dann verstärkt dies die Verbindung der für die kontextgerechte Verarbeitung von Emotionen und deren Regulation wichtigen vorderen Hirnrinde mit tief gelegenen und unbewusst arbeitenden Hirnstrukturen wie der Amygdala (Sripada et al. 2013).

Um die mögliche Bedeutung dieser Wirkung für die Hirnentwicklung zu verstehen, muss man um eine grundsätzliche Eigenschaft der Hirnentwicklung wissen, und zwar um die nutzungsabhängige Reifung. In der vorgeburtlichen und früh nachgeburtlichen Entwicklung des kindlichen Gehirns werden die Nervenzellen zunächst übermäßig miteinander verschaltet. Diejenigen Synapsen, die immer wieder genutzt bzw. aufgrund von Erfahrungen aktiviert werden, stabilisieren sich und ermöglichen eine zukünftig effiziente Weiterleitung von Informationen, während andere, ungenutzte Synapsen abgebaut werden. Die Erfahrungen des Kindes entscheiden also über das dauerhafte Schicksal von Synapsen. Werden im fürsorglichen Miteinander immer wieder Babys Emotionen gespiegelt und mit Worten benannt, können infolge der hohen Nutzung stabile Netzwerke zur differenzierten emotionalen Verarbeitung entstehen.

Solche Nervenzellen, die in emotionalen Situationen, beispielweise einer wahrgenommenen Bedrohung durch einen Fremden, physiologische Vorgange im Inneren des Kindes (z. B. Herzklopfen, das Muskelspiel bei der Mimik oder die Ausschüttung wohltuender Endorphine) rückmelden, werden mit Worten („Hast Du Angst?“) sowie mit dem visuellen Abbild des mütterlichen emotionalen Gesichtsausdrucks und weiteren Informationen verknüpft. Es werden stabile Nervenzellnetzwerke als Grundlage emotionaler Kategorien gebildet. Das Kind lernt, die eigenen Emotionen zu identifizieren und zu benennen.

Wird durch das im Miteinander immer wieder ausgeschüttete Oxytocin nun auch noch die oben erwähnte regulierende Verbindung der vorderen Hirnrinde zur Amygdala gestärkt und durch regelmäßige Nutzung stabilisiert, dann könnte dies die Voraussetzung für die Herausbildung guter Fähigkeiten in der Regulation eigener Emotionen bilden (für eine Übersicht siehe Struber 2016).

Bleiben diese Erfahrungen aus, kann dies mit Schwierigkeiten bei der Erkennung, der Benennung und der Regulation eigener Gefühle einhergehen. Eine Gruppe von Psychologen verschiedener Londoner Universitäten fand ein solches Defizit beispielsweise bei neun bis 18 Jahre alten Mädchen, die aufgrund ihrer individuellen Bindungsgeschichte eine Trennungsangst oder Probleme mit zwischenmenschlicher Nähe entwickelt hatten (Oskis et al. 2013).
In einer weiteren nachhaltigen Wirkung scheint das frühe Ausmaß der Oxytocinfreisetzung beeinflussen zu können, wie die Stoffsysteme im Gehirn des Kindes langfristig arbeiten. Je nachdem, wie liebevoll, feinfühlig und zuverlässig die frühe Fürsorge des Kindes ist, steht sein Gehirn mehr oder weniger unter dem Einfluss von Oxytocin oder auch – bei eher geringer Fürsorge – von Stresshormonen wie Cortisol. Auch wenn das entsprechende Forschungsgebiet noch recht jung ist, gibt es Hinweise darauf, dass nicht nur während der Schwangerschaft, sondern auch nach der Geburt die frühen Konzentrationen von Stoffen wie Cortisol oder Oxytocin über einen epigenetischen Mechanismus festlegen, wie viele Bindungsstellen diesen Stoffen langfristig zur Verfügung stehen. Dies wiederum kann Auswirkungen darauf haben, wie gut diese modulatorischen Stoffsysteme langfristig funktionieren, und wie der Mensch im späteren Kindesalter oder auch als Erwachsener mit Stress umgeht und ob er motiviert ist, Bindungen einzugehen.



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