Spiel als Motor der Entwicklung

Zum Verhältnis zwischen Spielen und Lernen

Inhaltsverzeichnis

  1. Entwicklung des kindlichen Spiels
  2. Spielend lernen: Zum Verhältnis zwischen Spielen und Lernen
  3. Die Kita als Spielort?
  4. Literatur

Gesamten Beitrag zeigen

Spielend lernen: Zum Verhältnis zwischen Spielen und Lernen


Spielhandlungen als Erfahrungsräume
Bereits im frühen Alter eignen sich Kinder aktiv Werterfahrungen an, erwerben vielerlei Kompetenzen und bilden zunehmend ein Bewusstsein für die eigene Identität aus. Das Spiel bietet vor diesem Hintergrund Erfahrungsräume, in denen sie mit Anforderungen umgehen, die sie in der Realität (noch) nicht bewältigen können. Die Realitätsbewältigung im Spiel kann nach Oerter (1998) in drei Formen geschehen: Das Nachspielen der Realität, die Transformation der Realität und der Realitätswechsel. Im Vergleich zum Alltagshandeln gewährt das Spiel Kindern eine gewisse Schutzzone, einen Verhaltensspielraum, der die individuelle Selbstentfaltung ungestörter gewährleistet, als es sonst der Fall wäre (Mogel 2008). Auf der Wirklichkeitsebene des Spiels können Risiken eingegangen werden, ohne Folgen in der Realität befürchten zu müssen (z.B. die Rolle eines „Bösewichts“ einnehmen).

Auch können Fähigkeiten erprobt und weiterentwickelt werden, bei denen auch Fehler und Misserfolge „eingeplant“ werden (etwas zu zerstören oder „Fahrfehler“ machen), ohne dass wesentliche Grundbedürfnisse (Bindung, Kontrolle, Selbstwert, Lust) beeinträchtigt werden. Auch sind im Spiel Verstöße gegen Normen und Werte (in gewissen Grenzen) erlaubt und werden von den Mitspielenden akzeptiert, sofern sie Teil des Spiels sind (z.B. „ausrauben“, „schummeln“). Im Spiel ist also nicht nur das Erproben der vorhandenen, sondern auch das Erleben neuer, erweiterter Kompetenzen möglich, die jeweils Lernerfahrungen darstellen und zu dem Aufbau des Selbst beitragen. Kinder erleben sich im Spiel damit als kompetent und selbstwirksam, weil sie im Spiel ihre eigenen Erfahrungs- und Lernräume selbst bestimmen.

Zone der nächsten Entwicklung
Das Spiel des Kindes gehört nach Piaget (1975) zur zentralen Form der Weltaneignung, weil das Kind in der aktiven Auseinandersetzung mit seiner Umwelt Wissen konstruiert (konstruktivistische Theorie). Auch für Wygotski (1980) ist das Spiel des Kindes von überragender Bedeutung für Lernen und Entwicklung, dabei erfolgen Lernprozesse in der Auseinandersetzung mit Anderen (sozialkonstruktivistische Entwicklungstheorie). Mit dem Spiel verbunden sind Prozesse des Denkens, Sprechens, Abstrahierens, Erinnerns und Planens. Rollenspiele haben eine wichtige Funktion im Skriptaufbau. So verdichten sich Handlungsabläufe im Alltag des Kindes nach und nach zu kleinen Drehbuch-Skripts, beispielsweise zu Mahlzeiten, zu Pflegesituationen oder täglichen Wegen und Erledigungen. Diese Skripts über Alltagsroutinen in Familie und Kita ermöglichen es dem Kind, sich zu orientieren und ein Gefühl der Selbstwirksamkeit innerhalb dieser Routinen zu entwickeln.

Weil die Skripts ermöglichen zu wissen, was gleich geschehen wird, können Kinder aktiv zu diesen Handlungen beitragen („schon etwas holen“), oder auch eigene Ideen/Pläne einbauen, wenn auch nicht immer erfolgreich. Im Spiel werden diese Skripts erprobt und erweitert, mit anderen Kindern und ihren Skripts „durchgespielt“ und ausgehandelt. Daraus ergeben sich erweiterte Wissensbestände über verschiedene Alltage in Familien und Kulturen. Nach Tomasello (1999) ist Spiel daher auch eine Form der Kulturaneignung.

Ein Meilenstein für die Spielentwicklung ist die geistige Repräsentationsfähigkeit (Bischof-Köhler 2011), also die Fähigkeit, sich Dinge vorstellen zu können, die physisch nicht vorhanden sind. Entwicklungspsychologisch steht diese in Verbindung mit Objektpermanenz (Piaget 1975), die wiederum Einfluss auf die Entwicklung von Bindungssicherheit als inneres Arbeitsmodell hat. Bezieht sich das Symbolspiel zunächst auf die eigene Person, werden im Laufe der Zeit auch andere Personen und Objekte in das Spiel einbezogen und Alltagsgegenstände umgedeutet. Das Symbolspiel im frühen Kindesalter ist daher Ausdruck der bereits vorhandenen komplexen kognitiven Fähigkeiten.

Theory of Mind und Prosoziales Verhalten
Im Spiel lernen die Kinder das Verhalten der anderen zu antizipieren und sie lernen, wie ihr eigenes Verhalten von anderen verstanden wird und wie es wirkt. Neben den kognitiven Erfahrungen, die in gemeinsamen Spielen gemacht werden („Wie groß kann ein Turm werden, bevor er umfällt?“), lernen die Kinder daher im Spiel viel über sich selbst und andere („Wann spielen andere mit mir? Wann ist ein Spiel beendet? Wie fühlt man sich im Streit?“). Gemeinsame Spiele mit anderen sind damit Interaktionskontexte, in denen eigene Fähigkeiten erprobt, die Reaktionen anderer erwartet und eingeschätzt werden und das eigene Verhalten darauf abgestimmt wird. Solche Interaktionen können Lachen, Hüpfen, Rennen oder von Gestik und Mimik begleitete verbale Äußerungen sein, die von anderen Kindern wahrgenommen und auf ihre Weise erwidert werden. Interaktionen können sich aber auch als Konflikte, beispielsweise um Spielobjekte gestalten. Bei solchen Auseinandersetzungen geht es häufig gar nicht so sehr um die Sache selbst, sondern um die die Wahrnehmung des eigenen Selbst („ich“, „meins“).

Kinder verfügen bereits sehr früh über erstaunlich hohe soziale Kompetenzen und aktive Beziehungsstrategien. Bereits im zweiten Lebensjahr gibt es Anzeichen dafür, dass sie die Gefühle anderer Personen erkennen und Handlungen oder auch Absichten zu deuten versuchen (Theory of Mind, vgl. Premack & Woodruff 1978; Astington 2000; Silbereisen & Ahnert 2002). Dadurch wird es möglich, das Verhalten von Personen zu begreifen und bis zu einem gewissen Grade vorherzusagen. Ebenso gibt es die Möglichkeit, zu erkennen, dass andere Menschen eigene Wünsche, Absichten und Bedürfnisse haben, die vielleicht in Widerspruch zu den eigenen Wünschen (z. B. einen Gegenstand ganz für sich alleine haben zu wollen) stehen.

Über Kooperations- und Spielerfahrungen entwickelt sich zunehmend die Erkenntnis, mit dem eigenen Verhalten das Verhalten anderer beeinflussen zu können, zum Beispiel, indem ein Spielobjekt mit Mitspielern geteilt werden kann. Es werden zunehmend sozial kompetentere Strategien entwickelt, um andere für eigene Ideen zu gewinnen, Spiele zu verlängern oder zu späteren Zeitpunkten fortzusetzen. Hierfür werden prosoziale Verhaltensweisen als begünstigend, Streitigkeiten und Konflikte dagegen als hemmend erlebt. Möglichkeiten, in vertiefte Spielbeziehungen mit anderen Kindern zu gelangen, führen daher zu einem differenzierten Repertoire an sozialen Kompetenzen, wie sie auch in anderen Kooperations- und späteren Arbeitsbeziehungen förderlich sind.

Ein weiterer wichtiger Aspekt des gemeinsamen Spiels mit anderen ist die Fähigkeit zur Selbststeuerung, die ein zumindest temporäres Zurückstellen eigener Interessen zugunsten anderer beinhaltet. Die Fähigkeit, abwarten zu können, wird in allen Spielformen beobachtet und zugleich als wichtige Voraussetzung gesehen, sich auf formale Lernprozesse einlassen zu können (vgl. compliance, zusammenfassend Glüer 2012).

Problemlösefähigkeiten, Dialogfähigkeit, Humor
Die Fähigkeit zum Spiel ist die Grundlage für die sprachlich-interaktive Auseinandersetzung mit der Umwelt. Das Spiel wird bisweilen sogar als Kern der sozial-kognitiven Entwicklung bezeichnet (Kammermeyer 2006). Allerdings entwickeln sich diese Kompetenzen nicht ohne Rückschläge. Wenn andere nicht verstehen, was man möchte oder einfach nicht das tun, was sie tun sollen. Wenn sie einen nicht mitspielen lassen oder ärgern, führt das unweigerlich zu Wut, Trauer und Resignation. Je jünger die Kinder und deren Spielpartner sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit für Missverständnisse. Denn nicht nur das eine Kind muss lernen, die Gefühle und Absichten der anderen zu verstehen, sondern die anderen befinden sich ebenfalls mitten in einem verwirrenden Prozess voller Erkenntnisse und Deutungen über sich und andere.
Die Möglichkeit, eigene Gefühle zu kontrollieren und diplomatisch zu agieren, entwickelt sich erst langsam im Laufe der Jahre und kann weder vorausgesetzt noch erzwungen werden. Vielfältige Spiele sind daher Gelegenheiten, sich mit Problemen und Konflikten interaktiv auseinander zu setzen und Lösungen zu entwickeln.

Eine wesentliche Komponente im Spiel ist die sprachliche Auseinandersetzung im und über das Spiel (z.B. „Ich wär wohl“ als sogenannte Meta-Kommunikation). Mit Spielen sind nicht nur Möglichkeiten verbunden, unterschiedliche sprachliche Ebenen (je nach Spielform eher akademisch oder alltagssprachlich) einzunehmen, sondern sich auch sprachlich mit anderen auseinander zu setzen. Streitigkeiten und Konflikte in Spielen können auch als Erproben dieser Kompetenzen gesehen werden („wer hat Recht, wer setzt sich durch, wer findet die beste Lösung?“); also als Lernfeld im positiven Sinne. So zeigt sich immer wieder, dass nicht Durchsetzungsstärke, sondern diplomatisches Geschick stärker dazu beträgt, ob Kinder als attraktive Spielpartner gesehen werden.

Ein besonderes Lernfeld ist die Entwicklung von Humor, der sich im Spiel ausdrückt; so werden mit zunehmender Entwicklung humorvolle Inhalte in Spielsituationen erkannt oder selbst kreiert. Humor ist häufig mit der Freude an Inkongruenz verbunden, also beispielsweise etwas Unerwartetes zu tun oder zu erleben. Das Interesse an einem Erleben solcher Inkongruenzen kann zu immer neuen Formen von Spielen führen; auch stärkt eine Kultur des Humors den Zusammenhalt innerhalb von Spielgruppen. Das bedeutet, Spiele sind ideale Gelegenheiten, um innerhalb einer Schutzzone die Bedeutung von Humor kennenzulernen, zu erproben und weiter zu entwickeln. Auch den Einfluss von Humor (Wir-Gefühl, Stärkung des Selbstwerts) aber auch Grenzen von Humor (Verletzung, Ausgrenzung anderer) werden im Spiel erlebt.

Betrachtet man also Spielen und Lernen, werden enge Verbindungslinien deutlich. Diese können aus jeweils unterschiedlichen disziplinären Blickrichtungen aufgezeigt werden, z.B. aus der Entwicklungspsychologie, Neurobiologie oder pädagogischen Psychologie. Immer wieder wird darauf verwiesen, dass das Kind im und durch das Spiel lernt und das Gelernte im Spiel einbaut. Im entwicklungs- oder lernpsychologischen Sinne wird damit Spielen ebenso wie Lernen als eine Änderung des Verhaltens sowie des Denkens, des Wissens und Könnens und auch der Emotionen verstanden. Die Veränderung ist dabei relativ stabil und anhaltend (Oerter & Montada 2008). Auch zeigt sich, dass sämtliche Lernfelder, die in den Bildungsplänen der Länder genannt werden, implizit oder explizit im Spiel des Kindes enthalten sind. So werden komplexe sprachlich-kognitive ebenso wie sozial-emotionale Kompetenzen im Spiel erworben.

Die Spiele der Kinder sind Ausdruck ihrer Lerndispositionen (u.a. Interesse, Engagiertheit, Verantwortungsübernahme); sie bestehen im Kern aus Kommunikation und Sprache(n), aus dem Erproben von Vorläuferkompetenzen, Problemlösefähigkeiten, lernmethodischen Kompetenzen, aus der Auseinandersetzung mit Werten, Normen, Regeln, Konventionen, Ritualen sowie aus dem Umgang mit Misserfolgen, Wut und Trauer. Durch das gemeinsame Spiel mit anderen werden Fertigkeiten erworben, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, sie in ihrer eigenen Lebenswelt zu deuten, Theorien über fremde Lebenswelten und Realitäten zu entwickeln und eigene Antworten darauf zu finden. Kurz: Das kindliche Spiel ist die Auseinandersetzung mit komplexen Herausforderungen und die Entwicklung von kreativen Lösungen dafür und trägt langfristig zu einer positiven Entwicklung und psychischen Stärke bei.



Verwandte Themen und Schlagworte