Julie Jolberg („Mutter Julie“) (1800-1870)

Julie Joberg
Julie Jolberg (Quelle: Ida-Seele-Archiv, 89407 Dillingen)
Julie Jolberg, auch Mutter Jolberg genannt, hat die evangelische „Kinderpflege“ maßgebend beeinflusst, insbesondere im süddeutschen Raum. Auf ihre Initiative hin wurden eine beachtliche Anzahl an Einrichtungen zur frühkindlichen Bildung und Erziehung sowie eine Ausbildungsstätte für Kleinkindlehrerinnen ins Leben gerufen. Julie Jolberg war eine hochgebildete Frau, ihrer Zeit weit voraus. Sie repräsentiert „eine Frauenbiographie aus dem 19. Jahrhundert, die zugleich einmalige und typische Züge trägt“ (Jacobi 2002, S. 98). Sie ist eine Frau, „die im Zwiespalt zwischen pietistischer Erweckungsbewegung und bürgerlicher Frauenbewegung einen eigenen Weg findet und einen hoch bedeutsamen Beitrag zur Entwicklung des Frauenberufs Erzieherin leistet" (Haug-Zapp 2000, S. 57). Als Julie Jolberg am 5. März 1870 im Alter von 69 Jahren in Nonnenweier starb, hinterließ sie ein Werk, „das für ihre Zeit mit keinem anderen, von einer Frau gegründeten, vergleichbar ist“ (Hauff 2006, S. 147).

Leben und Wirken

In Frankfurt/Main erblickte Regine, so ihr eigentlicher Mädchenname, am 30. Juni 1800 als drittältestes Kind von elf Geschwistern und älteste Tochter des jüdischen Gemeindevorstehers, Handelskaufmanns und Bankiers David Zimmern und seiner Frau Sara (geb. Flörsheim) das Licht der Welt. Aufgewachsen ist sie in Heidelberg, wo die Familie in einem stattlichen Barockpalais wohnte. Regine war ein stilles, schüchternes Kind, "das in scheuer Zurückgezogenheit von den Menschen und den Verhältnissen, unter denen es lebte, sich gerne eine eigene verborgene Welt bildete" (Gmelin 1875, S. 423). Das im jüdischen Glauben erzogene Mädchen erhielt, wie ihre Geschwister auch, Privatunterricht. Von ihrem dreizehnten bis fünfzehnten Lebensjahr besuchte Regine zur Vervollkommnung ihrer Bildung ein christliches Mädchenpensionat. In diesem „begegnete ihr die christliche Religion erstmals in ganzem Umfang und beeindruckte sie tief“ (Jacobi 2002, S. 84). Ebenso kommt sie schon früh „mit verschiedenen wissenschaftlichen, religiösen und politischen Zeitfragen in Berührung, da im Hause Zimmern ein reger gesellschaftlicher Verkehr stattfindet“ (Franke-Meyer/Reyer 2015, S. 105).

Im Alter von 21 Jahren heiratete Regine Zimmern den promovierten Juristen Leopold Joseph Neustetel. Das junge Ehepaar übersiedelte nach Hanau. Die Ehe, aus der zwei Töchter hervorgingen, dauerte allerdings nicht lange, denn bereits im Januar 1825 starb Joseph Neustetel an einem Lungenleiden - gerade als sich das junge Paar zur Erholung in Nizza befand. Am 16. November 1826 vermählte sich die junge Witwe mit Salomon Jolberg, dem ehemaligen Hauslehrer der Familie Zimmern. Bereits zwei Monate vorher ließ sich Regine Neustetel zusammen mit ihren beiden Töchtern und ihrem zukünftigen zweiten Mann evangelischen taufen. Sie nahm den Vornamen Juliana (Julie gerufen) an und Salomon Jolberg nannte sich mit Vornamen Gottfried Theodor. Julie Jolberg trafen erneut schwere Schicksalsschläge: Die in der zweiten Ehe geborenen beiden Töchter starben kurz hintereinander und auch ihr Mann erlag 1829 einer langjährigen Krankheit. Doch die fest im christlichen Glauben verankerte zweifache 29-jährige Witwe verzagte nicht, wie ihre Tagebucheintragung, Ende des Jahres 1829, belegt:

„Ich will nicht zurücksehen auf das, was ich für diese Erde verloren, nur auf das, was mir geblieben, was ich zu thun habe. Voriges Jahr zagte ich in bangen Zweifeln: wie wirst du es ertragen. Jetzt sind die Stürme vorüber. An Erfahrungen bin ich reicher geworden – möchtest du mir beistehen, daß sie mir nützen, daß ich ruhiger und fester werde“ (zit. n. Hübener 1888, S. 46).

Folgend konzentrierte sich Julie Jolberg ganz auf die Erziehung ihrer Töchter sowie der Pflege ihres alternden Vaters. 1840, nachdem sie sich ihren Mutterpflichten weitgehend entbunden fühlte, übersiedelte sie nach Leutesheim bei Kehl am Rhein, gegenüber von Straßburg. Dort sammelte sie im Pfarrhaus die Tagelöhnerkinder ein "zum Singen, Spielen, Basteln, Stricken und vor allem zum Erzählen biblischer Geschichten ... Sie lernen kleine Arbeiten, 'die ihre Sinne anregen und zugleich kleine Belohnungen sein sollen': Strohmatten, Bälle, Hauben werden gebastelt" (Brandt 1999, S. 32). Den Kindern gefielen diese Zusammenkünfte so sehr, „daß die Schar wie eine Lawine anwuchs. Bald bezog Frau Jolberg ein eigenes neu hergerichtetes Häuschen, in dem auch Scheunen und Ställe in Stuben umgewandelt werden mußten, damit alle Kinder Platz fanden. Frau Jolberg faßte ihr Ziel bei dieser Arbeit in die Worte: ‚Mein Sehnen ist, die Seelen der Kinder dahin zu leiten, wohin Gottes Güte uns alle führen will: zum Erkennen, Lieben und Nachfolgen unseres Erlösers‘“ (Rentdorff 1935, S. 22). Bald wurde Julie Jolberg von den umliegenden Dörfern gebeten, ihnen auch eine „solche Kleinkinderschule einzurichten und Leiterinnen dafür auszubilden“ (ebd., S. 22 f). Und so gründete sie 1844 in Leutesheim ein "Mutterhaus für Kinderpflege“, aus dem, „ohne daß es jemand gewollt oder geahnt hatte, aus dem kleinen Werk nach und nach ein großes Diakonissen-Mutterhaus für Kinderpflege“ (ebd., S. 23) erwuchs.

Nach Zeiten politischer Unruhen (1848/49) fand Mutter Jolberg, wie sie sich am liebsten nennen ließ, 1851 mit ihrer Bildungseinrichtung in Nonnenweier eine neue Heimat, die dort immens schnell zum neuen Leben erblühte. Die ausgebildeten Kinderpflegerinnen „wurden überallhin, in die neu entstehenden Kinderpflegen in Baden selbst, nach der Pfalz, Schweiz, Württemberg, Hessen, selbst über das Meer begehrt. Um Neujahr 1854 sah Mutter Jolberg mehr als 100 Schwestern in der Arbeit stehen; 1866 waren 234 Kinderpflegen von Nonnenweier aus besetzt und bedient, und das Verzeichnis von 1871 weist deren 358 auf. Den in der Anstalt geweckten Geist suchte Mutter Jolberg durch ständigen brieflichen Verkehr mit den auswärtigen Schwestern ... wach zu erhalten“ (Gmelin 1875, S. 425) sowie durch unzählige Besuche, in denen sie die von ihr ausgebildeten jungen Frauen in pädagogischen und organisatorischen Fragen beriet. In ihren Briefen/Visitationen legte sie ihren Anvertrauten u.a. folgende drei Fragen zur Selbstprüfung nahe:

„Hast du deinen Dienst vor den heiligen Augen Gottes getan? Hast du deine Pflegebefohlenen in Fürbitte priesterlich auf dem Herzen getragen? Hast du dich im Umgang mit ihnen von dem Gnadengeist des Herrn beherrschen lassen?“ (zit. n. Rendtorff 1928, S. 138).

Nonnenweier
Die Bildungseinrichtung für Kinderpflegerinnen in Nonnenweier, Quelle: Ida-Seele-Archiv, 89407 Dillingen
Mutter Jolberg war noch vergönnt, die 25-Jahrfeier ihres „Mutterhauses für Kinderpflege“ zu erleben. Noch heute fühlt sich das " Diakonissenhaus Nonnenweier", das seit 1919 diese Titulierung trägt, dem Vermächtnis seiner Gründerin verpflichtet. In Trossingen tragen ein Kindergarten, in Schwanau-Nonnenweier ein Kinderhaus (Kindergarten und Hort) den Namen Regine Jolberg und in Karlsruhe nennt sich eine Einrichtung „Kindertagestätte Mutter Jolberg“.

Zur Ausbildung der Kinderpflegerinnen

Anfang 1845 konnte mit der einjährigen Ausbildung von „12 Jungfrauen“ (Ziegler 1925, S. 87) begonnen werden. Wohl überlegt forderte Julie Jolberg, entgegen der seinerzeit an anderen Ausbildungsstätten üblichen Ausbildungszeit von wenigen Wochen, eine einjährige Vorbereitung auf den Beruf der Kinderpflegerin, zumal bei einer Person, „welche nicht schon vorzüglich im Lesen und Erzählen, so wie überhaupt im Umgang mit Kindern geübt ist, ist es nicht wohl möglich, daß unter einem Jahr etwas Rechtes, Nachhaltiges geleistet werden kann“ (Jolberg 1845, S. 20). Die Schülerinnen, in der Regel nicht unter 14 Jahre und nicht über 30 Jahre alt, sollten sich in einer vierteljährlichen „Probezeit“ über „ihre inneren und äußeren Befähigungen zu diesem Berufe... klar werden können. Auch solche, die diesen Beruf später nicht ergreifen können; sollen... die Zeit nicht ohne Gewinn für ihren inneren Menschen in dieser christlichen Umgebung zubringen“ (Jolberg 1844, S. 195). Die Schulleiterin stellte für die damalige Zeit durchaus anspruchsvolle Anforderungen an die Inhalte der einjährigen Ausbildung, wie folgendes Zitat belegt:

„Zu dieser Ausbildung wird nun erfordert, daß eine solche Person selbst zunächst für sich alle nöthigen Schulkenntnisse wiederhole, und neu lerne, als richtig lesen, das Gelesene recht betonen und verstehen, sodann schreiben, um Register führen zu können, rechnen, zu Führung des Einnahme- und Ausgabe-Buches u.dgl. Sodann muß die Geschichte der Bibel, alten und neuen Testaments so eingeübt werden, daß sie leicht, für Kinder faßlich wieder erzählt werden kann; ebenso muß ein Vorrath lieblicher anderer Kindergeschichten gesammelt, und zur Wiederanwendung im Herzen bewahrt werden. Es muß auch das Vorerzählen geübt werden, so daß dadurch die Aufmerksamkeit der Kinder geweckt und erhalten wird. Ferner muß eine ziemliche Anzahl lieblicher Kindermelodien gründlich eingeübt und durchgesungen, die natürliche Gabe des Gesanges erweitert und ausgebildet werden, um vorsingen, und viele passende Lieder, die gleichfalls gelernt seyn müssen, den Kindern einprägen zu können. Es muß ferner ein Anfangsgrund des Lautirens, des Zählens und einfachsten Rechnens gelegt werden, um die Kinder damit zu beschäftigen. Auch ein Anfang von Naturgeschichte, um Bilder aus derselben den Kindern vorzeigen zu können, ist nöthig. Endlich muß eine ziemliche Auswahl an Spielen mit den Kindern sowohl im Freien als im Zimmer eingeübt, und die Kunst gelernt werden, ein Kind mit den Kindern zu seyn, da freundlich und lieblich zusammen spielen ein besonderes Bildungsmittel für Kinder ist, wobei auch ihre Herzen offenbar werden“ (Jolberg 1845, S. 9 f).

Neben dem vielfältigen Unterrichtskanon stand aber im Zentrum der Ausbildung „die Herzen der jungen Mädchen in die rechte Stellung zu ihrem Gott und Heiland zu bringen, aus dessen Liebe heraus sie auch ihren Beruf erfassen sollten“ (Brandt 1872, S. 75).

Die staatliche Anerkennung der Ausbildungsstätte erfolgte „unter dem 24. Aug. 1846 Nr. 1482, trotz aller vorhergehenden „Schmähartikel“, die versuchten, die neue Anstalt „als pietistisch und ‚staatsgefährlich‘ bis hinauf zum Großherzog anzuschwärzen“ (Ziegler 1925, S. 88).

Die von Julie Jolberg ausgebildeten Mädchen und auch verheirateten Frauen wurden „Schwestern genannt. Dieser Terminus soll dokumentieren, dass alle zusammen eine Familie bilden. Obwohl die Bezeichnung ‚Schwester‘ häufig synonym mit dem Begriff Diakonisse gebraucht wird, gehören die jungen Frauen in der Ausbildungsstätte von Regine Jolberg zu Lebezeiten der Gründerin diesem Stand nicht an“ (Hauff 2006, S. 159).

Bildung und Erziehung in den Einrichtungen für das „zarte Kindesalter“


Im Focus ihrer Pädagogik stand die Liebe zum Kind, die das untrügliche Kennzeichen dafür ist, ob die Kinderpflegerin noch am rechten Platz ist. Dazu formulierte Julie Jolberg in einem Rundbrief an ihre Schwestern unmissverständlich:

„Die Liebe ist... die beste Erzieherin und Lehrerin... legt euer Amt nieder, wenn die Liebe erloschen ist“ (zit. n. Hauff 2006, S. 163).

Mutter Jolberg legte großen Wert auf die, wie wir heute sagen, systematische Beobachtung des Kindes, um seine Individualität zu erspüren, d.h. seine jeweiligen Befindlichkeiten und Bedürfnisse, seinen Entwicklungsstand, seine Begabungen als auch Schwächen. Demzufolge lautete ihr pädagogisches Credo, das letztlich nur dem Ziel diente, „über die Kindertageseinrichtungen einen Beitrag zur Wiedererstellung einer von Gott gewollten patriarchalen Lebensordnung zu leisten“ (Franke-Meyer/Reyer 2015, S. 127 f):

"Wenn wir mit Kindern umzugehen haben, die wir noch nicht kennen, so müssen wir ihnen weder etwas verbieten noch gebieten, sondern ihnen nur Liebe erzeigen. Und wollen wir etwas von ihnen, sie nur bitten. Dadurch werden sie angezogen und erfüllen aus Liebe mit Freude unsere Wünsche. Ehe wir einem Kinde etwas versagen, müssen wir es kennen lernen. Auch schon das Kind hört ein Ja lieber als ein Nein. Darum ist ein ruhiges Beobachten ohne viele Worte so nötig. Allgemeine Worte zum Beispiel: seid brav! folgt schön! seid nicht so unartig! helfen nichts. Sind sie unartig, so fesselt ihre Aufmerksamkeit durch ein schönes Lied, eine liebliche Erzählung, ein heiteres Spiel, die in ihrer Seele die Stimmung hervorbringen, die ihr wünscht. Vor allem aber lasst einen Geist der Ruhe, der Ordnung, der Freundlichkeit von euch ausgehen, so wird er sich bald unter den Kindern verbreiten. Wollen wir ein Kind kennen lernen, so müssen wir eben erst längere Zeit im Umgang mit ihm stehen, wie dies auch bei Erwachsenen nötig ist. Erst müssen wir seine Liebe gewinnen, damit es nicht durch Schüchternheit gebunden ist, sich uns zu zeigen, wie es ist... Wir sollen ja bei der Erziehung nichts anderes bewirken, als die von Gott gegebenen Keime vor Schaden und Auswüchsen bewahren und das im Geist Vorhanden von Gott hineingelegte sich entwickeln lassen. Da wird man finden, dass jedes Kind wieder einer anderen Behandlung bedarf: Eins der größten Nachsicht, weil es schüchtern und verzagt ist und man ihm Selbstvertrauen einflößen muss. Ein anderes des Ernstes wegen seiner Flüchtigkeit und Anlage zu Leichtsinn; wieder ein anderes der Strenge wegen Anlage zu Lügen und heimlichen Ränken. Ebenso erfordern die Geisteskräfte verschiedene Nahrung. Es ist also zweierlei zu erlernen. Ernstlich das Erkennen der Kindernatur, sodann dem Erkannten gemäß die richtigen Mittel wählen... Wie anderes würde es um uns Menschen aussehen, wenn wir als Kinder sorgfältig beobachtet und geleitet worden wären! Freilich tut der Herr Wunder an verkehrten und verwahrlosten Seelen, sammelt Totengebeine und bläst den himmlischen Odem ein, aber er sieht es doch lieber, wenn die Seelen unter der Menschen Leitung bei ihm in Unterricht gehen, wenn wir Liebe üben und unsere Mitmenschen nicht erst verkrüppeln lassen" (zit. n. Brandt 1999, S. 61 ff.).

Entschieden lehnte Mutter Jolberg ein Vorgreifen auf schulische Aufgaben in den Anstalten für das zarte Kindesalter, die grundsätzlich mehr familienmäßig als schulmäßig ausgerichtet sein sollten, ab. Alles schulmäßige Lernen verbannte sie aus den von ihr ins Leben gerufenen Kinderpflegen:

„Das Lesen- und Schreiben-Lehren selbst, ist ein Vorgreifen in die Aufgaben der Volksschule wohlweislich für die Kinderschulen im Badischen gesetzlich verboten. Diese Anstalten für das zarte Kindesalter sollen ja keine Schulen im eigentlichen Sinne des Wortes sein, sondern eigentlich wohlgeordnete erweiterte Kinderstuben, in welchen die Kinder nach Leib und Seele wohl gepflegt werden, weshalb man auch von da an den Namen ‚Kinderpflege‘ als den geeignetsten annahm und beibehielt“ (zit. n. Brandt 1872, S. 65).

Für Mutter Julie sollten die vorschulischen Anstalten ebenso Stätten der christlichen Erziehung sein, da diesbezüglich gerade die frühesten Eindrücke „in den meisten Fällen entscheidend für das ganze Leben (sind; M. B.): denn je weicher das Gemüth ist, desto empfänglicher ist es auch“ (Jolberg 1845, S. 59). Die religiöse Erziehung in den Kinderpflegen begann am Morgen, wenn alle Kinder versammelt waren. „Da ist die beste Zeit, mit Gesang und Gebet ihnen einen kurzen Abschnitt aus der biblischen Geschichte zu erzählen, sie ein Sprüchlein zu lehren, einfach und verständlich, mit Ausdruck und Kraft, und mit einigen Worten es ihnen nahe zu bringen“ (zit. n. Brandt 1872, S. 178). Nach diesem allmorgendlichen religiösem Ritual sollten „alsdann die Kinder wieder Luft und Bewegung haben. Die Natur ist ihr Element. Das gibt viel Stoff zum Aufmerken, zum Belehren, ganz einfach und mütterlich. Für die Kinder leben alle Gegenstände, sie richten von Sand eine ganze Welt auf, bauen Gärten und Häuser mit Blumen und Hölzchen, machen Mühlen und Eisenbahnen und üben so ihre Kräfte, wenn sie recht geleitet werden“ (zit. n. ebd.).

In der einschlägigen historiographischen Fachliteratur zum Kindergarten ist bis heute ungeklärt, inwieweit Julie Jolberg die "Fröbel'sche Methode" in den von ihren Schwestern geleiteten Kinderpflegen einführte. Die Jolberg-Expertin Adelheid von Hauff konstatiert, dass Mutter Jolberg und Friedrich Fröbel vergleichbare Einrichtungen initiiert haben, sich aber die jeweiligen Ausgangspositionen grundsätzlich unterscheiden. So ist der Stifter des Kindergartens „transzendental-philosophisch motiviert, Regine Jolberg religiös-sozialpädagogisch“ (Hauff 2009, S. 110). Die beiden Pädagogen gehen von einer unterschiedlichen Theologie und Christologie aus“ (Hauff 2002, S. 264). Schon 1888 wies Johannes Hübener auf den unterschiedlich herrschenden Geist hin, der sich in den an der Fröbelpädagogik orientierenden Kindergärten einerseits und den christlich ausgerichteten Kinderpflegen andererseits zeigte:
"Die Fröbelsche Bewegung ging an ihr (Julie Jolberg; M. B.) spurlos vorüber, nicht weil sie in ihrem klaren Verstand schnell durchschaut hatte, dass darin ein ganz anderer Geist herrschte. Deshalb konnte sie sich Fröbels Ideen nicht aneignen"(Hübener 1888, S. 51).

Fröbel und Jolberg ist gemeinsam, dass sie nicht ihre Einrichtungen als eine Schule vor der Schule verwirklicht sehen wollten. Auch wenn Julie Jolbergs „Begründung weniger in einer elaborierten Theorie der Entwicklung der kindlichen Seele wie bei Fröbel liegt, wird man wohl davon ausgehen müssen, dass die Praxis nicht so unterschiedlich war“ (Jacobi 2002, S. 92). Sicher ist, dass Mutter Jolberg über Baronin Bertha von Marenholtz-Bülow, damals weithin bekannt als eifrige Fröbelepigonin, die Pädagogik des Kindergartenstifters näher kennen lernte. Die Adelige weilte 1867 in Nonnenweier, „um das dortige Anstaltsleben und die Art der Kinderschulen an der Quelle zu studieren. Sie holte dort aus ihren Reisekoffern all die mancherlei sinnigen Spiel- und Veranschaulichungsmittel heraus, wovon die Fröbelsche Mehtode so reich ist, um deren Einführung zu empfehlen und ihre Erklärungen daran zu knüpfen“ (Ziegler 1925, S. 183 f). Wie aus Briefen an die Baronin hervorgeht, vermisste Julie Jolberg bei Fröbel die "christlichen Principien", dass er „das rettungsbedürftige Menschen- und darum auch Kinderherz und die Notwendigkeit des Sünderheilandes nicht zum Fundament seiner Erziehung macht und in äußeren Dingen und Verstandesentwicklung einen Weg zur wahren Beglückung des Menschen sieht, der mit dem Wort Gottes in Widerspruch steht und deshalb auch zum letzten Ziele nicht führen kann“ (ebd., S. 184). Darum übernahm Julie Jolberg auch nicht die Titulierung "Kindergarten", sondern nannte ihre Anstalten „Kinderpflegen“. Trotz der Ansicht, dass der "Fröbelschen Lehre die gemüthvolle christliche Auffassung vom Kinde fehle" (zit. n. Merkl 1996, S. 102), stand sie den „feinsinnigen“ Fröbel’schen „Spielgaben“ und „Beschäftigungsmitteln“ durchaus positiv gegenüber. So forderte sie, wie aus einem Brief an eine Schwester, welche in einer Kinderpflege in Thuningen eingesetzt war, dass Spielsachen in hinreichender Anzahl vorhanden sein sollten, “für Knaben vornehmlich Bauhölzchen (Baukästen) nach Fröbelschen (3., 4., 5., 6. Gabe) und Fölsingschen (Johannes Fölsing war damals in evangelischen Kreisen ein anerkannter Kleinkinderpädagoge; M. B.) Mustern ... Für beide Geschlechter Bälle, Stäbchen zu Legespielen nach Fröbelschen Mustern. Das Spiel mit den Fröbelschen Mitteln ist sehr vielfältig. Fröbel unterschiedet verschiedene Bau- und Legeformen, Lebensformen, d.h. Darstellung von Häusern, Kirchen, Treppen ... usw. Schönheitsformen, Zusammenlegen der Klötzchen oder Stäbchen (Muscheln, Steinchen, Perlen usw.) in symmetrische Figuren. Erkenntnißformen, d.h. Darstellung von geometrischen Figuren, waagrechten, senkrechten, schrägen Linien, Dreiecken, Rechtecken, Quadraten, Kreisen usw.“ (zit. n. Merkl 1996, S. 102).
Diesem Zitat steht konträr gegenüber, dass, wie Hauff resümiert, die Spiel- und Beschäftigungsmaterialien Fröbels erst in der Nachfolge Julie Jolbergs befürwortet wurden, beispielsweise von Mutter Wilhelmine Canz, Gründerin der Großheppacher Schwesternschaft (vgl. ebd., S. .110).

Literatur

  • Berger, M.: Führende Frauen in sozialer Verantwortung: Mutter Jolberg, in: Christ und Bildung 1997/H. 7, S. 35
  • Ders.: Jolberg, Regine, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL), Band 21, Nordhausen 2003, Sp. 718–727.
  • Brandt, M. G. W.: Mutter Jolberg. Gründerin und Vorsteherin des Mutterhauses für Kinderpflege in Nonnenweier, ihr Leben und Wirken. Erste Hälfte, Barmen 1871
  • Ders.: Mutter Jolberg. Gründerin und Vorsteherin des Mutterhauses für Kinderpflege in Nonnenweier, ihr Leben und Wirken. Zweite Hälfte, Barmen 1872
  • Brandt, K.: Regine Jolberg. Ein Leben zu Gottes Verfügung, Holzgerlingen 1999
  • Franke-Meyer, D./Reyer, J.: Klassiker der Pädagogik der frühen Kindheit. Ideengeber und Vorläufer des Kindergartens, Weinheim/Basel 1015, S. 104-128
  • Gmelin, M.: Regine (Julie) Jolberg, geb. Zimmern, in: Weech, F. v.: Badische Biographien, Heidelberg 1875
  • Gehring, J.: Die evangelische Kinderpflege. Denkschrift zu ihrem 150jährigen Jubiläum, Berlin/Leipzig 1929
  • Hauff, A. M. v.: Regine Jolberg (1800-1870). Leben, Werk und Pädagogik, Heidelberg 2000
  • Dies.: Regine Jolberg (1800-1870), in: Hauff, A. M. v. (Hrsg.): Frauen gestalten Diakonie. Band 2: Vom 18. Bis zum 20 Jahrhundert, Stuttgart 2006, S. 147-163
  • Dies.: Regine Jolberg und Friedrich Fröbel als Protagonisten der Vorschulerziehung, in: Götzelmann, A. (Hrsg.): Diakonische Kirche. Anstöße zur Gemeindeentwicklung und Kirchenreform. Festschrift für Theodor Strohm zum 70. Geburtstag, Heidelberg 2009, S. 99-110
  • Haug-Zapp, E.: Zwischen Frauenbewegung und Erweckungsbewegung. Erinnerungen an Regine Jolberg, in: Theorie und Praxis der Sozialpädagogik 2000/H. 6, S. 57
  • Heinsius, M: Regine Jolberg: die Mutter des Diakonissenhauses Nonnenweier, Stuttgart 1951
  • Hübener, J.: Die christliche Kleinkinderschule, ihre Geschichte und ihr gegenwärtiger Stand, Gotha 1888
  • Jacobi, J.: Regine Jolberg. Sozialpädagogische Frauenbildung im 19. Jahrhundert zwischen Judentum und Pietismus, in: Neue Sammlung 2002, S. 83-98
  • Jolberg, R.: Die Kinderpflege zu Leutesheim, ein Aufruf an das Landvolk und seine Freunde, in: Das Reich Gottes. Christliches Volksblatt für das Rheinland 1844, S. 134-135, 194-195
  • Dies.: Die Kinderpflege in Leutesheim, in: Das Reich Gottes. Christliches Volksblatt für das Rheinland 1845, S. 19-20, S. 58-59, S. 63-64
  • Merkl, A.: Mutter Julie Jolberg und ihr sozial-diakonisches Werk, München 1996 (unveröffentl. Diplomarbeit)
  • Rendtorff, E.: Das Bild der rechten ‚Kleinkinderlehrerin‘, wie es die Führer und Förderer der Kleinkinderschulsache ursprünglich im Herzen trugen, in: Die christliche Kinderpflege 1928, S. 111-115 u. 137-139;
  • Dies.: Einzelbilder aus 100 Jahren deutsch-evangelischer Kinderpflege, in: Der Armen- und Krankenfreund 1935, S.19-30
  • Ziegler, W.: Mutter Jolberg und die Väter des Nonnenweier Werkes, Karlsruhe 1925


Weblinks

*http://www.kindergartenpaedagogik.de/134.html (abgerufen 12. Juni 2016)
*https://de.wikipedia.org/wiki/Regine_Jolberg (abgerufen 12. Juni 2016)
*http://www.deutsche-biographie.de/sfz37779.html (abgerufen 12. Juni 2016)
*https://prezi.com/0eqafpvarcmv/julie-regine-jolberg/ (abgerufen 12. Juni 2016)


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