Bindung und Begabungsentfaltung

Inhaltsverzeichnis

  1. Bindungssicherheit
  2. ErzieherIn-Kind-Beziehung
  3. Resümee
  4. Literatur

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Bindungssicherheit


Das empirischempirisch|||||Empirie bezeichnet wissenschaftlich durchgeführte Untersuchungen und Erhebung, die gezielt und systematisch im Forschungsfeld oder im Labor durchgeführt werden. Empirische Forschungen können durch verschiedene Methoden praktisch angewendet werden.e Paradigma der Bindungsforschung, das im Bereich der frühen Beziehungsentwicklung zentral ist, konzentriert sich auf Unterschiede in der Beziehungsqualität, die zwischen kleinen Kindern und ihren Bindungspersonen beobachtbar sind. Auf das Ausmaß der Bindungssicherheit eines Kindes wird aus seinem Verhalten nach kurzen Trennungen von einer primären Bezugsperson5 geschlossen (Ainsworth et al. 1978). In der sogenannten »fremden Situation« (Ainsworth/Wittig 1969) wird das Sicherheitsbedürfnis des Kindes in acht kurzen Episoden, die in einem ihm unvertrauten Spielzimmer stattfinden, durch den Kontakt mit einer ihm fremden Frau und durch zwei Trennungen von der Mutter zunehmend aktiviert. Entscheidend für die Diagnostik der Bindungssicherheit sind die Reaktionen des Kindes auf die Mutter, wenn sie nach den beiden Trennungen das Spielzimmer wieder betritt. Es wird angenommen, dass sich hier Erwartungshaltungen des Kindes offenbaren, die das Resultat früherer Interaktionserfahrungen sind. Ein »sicher« gebundenes Kind hat bislang erlebt, dass seine Mutter ihm zuverlässig Schutz und Nähe gewährt, wenn es Angst und Unsicherheit signalisiert. In der fremden Situation sucht das Kind nach der Trennung ohne zu zögern die Nähe der Mutter und wird durch den Kontakt mit ihr nachhaltig beruhigt, sodass es bald wieder explorieren kann. »Unsicher vermeidende« Kinder haben erfahren, dass ihre Mütter sie häufig nicht ernstnehmen, wenn sie sich ängstlich zeigen, oder sogar mit Zurückweisung auf sie reagieren. Sie wagen es daher nicht, ihr Bedürfnis nach Sicherheit und Schutz offen und direkt auszudrücken. »Unsicher ambivalente« Kinder hingegen drücken ihre negativen Gefühle sehr intensiv aus, da sie ihre Bindungsperson als halbherzig und unbeständig erlebt haben.  Sie werden durch die Trennung meist aus der Fassung gebracht und sind durch den anschließenden Kontakt nicht nachhaltig zu beruhigen. In der fremden Situation sind neben diesen drei »klassischen« Bindungsmustern Anzeichen für traumatisierende Entwicklungsbedingungen bei den sogenannten »hoch unsicheren Bindungen« (Crittenden et al. 2007) oder beim »desorganisierten« Bindungsmuster (Main/Solomom 1986; Zulauf-Logoz 2008) identifizierbar.

Obwohl bei der Entstehung von Bindungsmustern auch Charakteristika des Kindes und der Passung zwischen Mutter und Kind eine wichtige Rolle spielen, wird der mütterlichen Feinfühligkeit eine entscheidende Bedeutung zugeschrieben. Als Feinfühligkeit wird das einfühlsame Reagieren auf kindliche Signale bezeichnet, das sowohl die Regulation der spezifischen Bedürfnisse des Kindes als auch die Anpassung an seine Besonderheiten beinhaltet (Grossmann et al. 1997). Der angenommene Zusammenhang zwischen der Interaktionsqualität mit der Mutter und der Bindungssicherheit zwischen Mutter und Kind kann auf der Basis von Metaanalysen der zahlreich vorhandenen Studien als empirisch gesichert gelten (de Wolff/van Ijzendoorn 1997). Auch bestätigen viele Untersuchungen die positive Bedeutung einer sicheren primären Bindung für die weitere sozio-emotionale Entwicklung von Kindern (Grossmann et al. 1997).

Damit Kleinkinder bei einer Fremdbetreuung angstfrei explorieren und somit ihre Begabungen entfalten können, ist es aus einer bindungstheoretischen Perspektive unerlässlich, dass ErzieherInnen die Rolle von Bindungspersonen übernehmen mit allen Anforderungen, die es an ihre physische und psychische Präsenz stellt, als »Sicherheitsbasis« zu fungieren. Damit das möglich ist, muss die psychologische Funktion der »Sicherheitsbasis« zuvor durch die primären Bindungspersonen auf eine ErzieherIn als »sekundäre « Bindungsperson(en) übertragen werden. Wie das beim Übergang in eine Kita praktisch geschehen kann, wird z.B. im Berliner Eingewöhnungsmodell beschrieben, das vielen pädagogischen Fachkräften bekannt ist (Laewen et al. 2003).

Die Frage, ob ErzieherInnen Kindern unter drei Jahren prinzipiell im selben Ausmaß Sicherheit vermitteln können, wie das primären Bezugspersonen möglich ist, kann anhand der derzeitig verfügbaren empirischen Studien kaum beantwortet werden. So gibt es Untersuchungen, die dies hinsichtlich der Alltagsrealität von KiTa-Kindern eher in Frage stellen: Zum einen wurden in Abhängigkeit von der Dauer außerfamiliärer Betreuung vermehrt vor allem aggressive Verhaltensauffälligkeiten festgestellt (NICHD Early Child Care Research Network 2003), zum anderen wurden auf der physiologischen Ebene (Tagesverlauf des Cortisolspiegels) Hinweise auf eine ungünstigere Stressverarbeitung gefunden (Watamura et al. 2003). Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die von Ahnert, Rickert und Lamb durchgeführte Beobachtungsstudie, in welcher der gesamte Tagesablauf von Kita-Kindern mit dem von hausbetreuten Kindern verglichen wurde (Ahnert et al. 2000; Ahnert 2003). Die Studie zeigt, dass Kita-Kinder im Vergleich zu hausbetreuten Kindern während ihres Aufenthaltes in der Kita weniger individuelle Zuwendung erfuhren. Dieser Mangel wurde jedoch von den Eltern der Kinder durch eine vermehrte Zuwendung im häuslichen Kontext, vor allem vor dem Schlafengehen, kompensiert. Auffällig war, dass Kita-Kinder während der Fremdbetreuung weniger quengelten als hausbetreute Kinder im selben Zeitraum, dafür aber umso mehr, wenn sie von ihren Eltern abgeholt wurden.

Trotz dieser eher kritischen Gesichtspunkte steht außer Frage, dass ErzieherInnen Funktionen einer Bindungsperson erfüllen können und müssen. In ihrem Sammelband »Die Erzieherin-Kind-Beziehung. Zentrum von Bildung und Erziehung« ermöglichen Becker-Stoll und Textor (2007) einen umfassenden Einblick in diese Thematik. Empirische Belege gehen u.a. aus Untersuchungen von Fox (1977), Cummings (1980) und Barnas/ Cummings (1994) hervor. Von besonderem Interesse sind in diesem Zusammenhang vor allem Studien, in denen Vergleiche zwischen Mutter-Kind- und ErzieherInnen-Kind-Bindungen vorgenommen wurden, wie z.B. von Fox (1977) und Cummings (1980). Wir werden auf diese Studien und auf die Ergebnisse einer Metaanalyse zur ErzieherInnen-Kind-Bindung, die Ahnert, Pinquart und Lamb 2006 vorgelegt haben, weiter unten näher eingehen.

Die Annahme, dass die Begabungsentfaltung von Kindern u.a. auch mit einer sicheren Erzieher/innen-Kind-Bindung zusammenhängt, wird vor allem durch Ergebnisse aus Untersuchungen gestützt, in denen das Interaktionsverhalten von Erzieherinnen im Umgang mit Kindern erfasst wurde. Alle groß angelegten und die meisten kleineren Studien zeigen, dass die Feinfühligkeit und die sensible Stimulation, die Kinder durch Erzieher/innen erfahren – genau wie entsprechende Erfahrungen im häuslichen Kontext – langfristig positive Auswirkungen haben, und zwar nicht nur auf die sozio-emotionale sondern auch auf die kognitive Entwicklung (siehe z.B. Hirsh-Pasek, Burchinal 2006).

Als ein Instrument zur Erfassung der Interaktionsqualität bzw. der Sensitivität von Betreuungspersonen im Umgang mit Kindern sei beispielhaft die Caregiver Interaction Scale (CIS) mit einem Item pro Subskala kurz beschrieben (Arnett 1989):

• Sensitivität der Fachkraft, z.B. sie spricht warmherzig mit den Kindern

• Strenge/Härte (harshness) der Fachkraft, z.B. sie ist kritisch zu den Kindern

• Distanziertheit, z.B. sie scheint sich nicht für die Aktivitäten der Kinder zu interessieren

• Gewähren von Freiheit (Permissivness), z.B. sie weist die Kinder nicht zurecht, wenn sie sich schlecht verhalten.

Die Einschätzung der Fachkräfte mit den Items der CIS wird nach einer Vier-Punkte-Skala hinsichtlich des Zutreffens des jeweiligen Items vorgenommen.

 


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