Interview mit Dr. Ilse Wehrmann im Rahmen des Kongresses Bewegte Kindheit


Dr. Ilse Wehrmann gilt in Deutschland als eine der profiliertesten ExpertInnen der Frühkindlichen Bildung insbesondere auch im Hinblick auf das KiTa-System und dessen Rahmenbedingungen. Auf dem Kongress Bewegte Kindheit spricht sie am Freitag zum Thema „Kinder bilden Deutschlands Zukunft – Anspruch und Widerspruch“. Im Vorfeld äußert sie im Interview mit Karsten Herrmann angesichts neuer Herausforderungen wie der Inklusion oder der Aufnahme von Kindern mit Fluchterfahrungen in der KiTa ohne verbesserte Rahmenbedingungen die Befürchtung „dass uns das System in Teilen um die Ohren fliegt“. Sie fordert daher einen „Bildungssoli“.

  • Die frühkindliche Bildung hat in den letzten Jahren Hochkonjunktur und die Ansprüche an Pädagogische Fachkräfte in den KiTas steigen immer weiter an – können diese unter den gegebenen Rahmenbedingungen und angesichts der neuen Herausforderungen wie zum Beispiel der Aufnahme von Kindern aus geflüchteten Familien – tatsächlich eingelöst werden?


wehrmann1 200Hochkonjunktur hat die frühkindliche Bildung natürlich vor allen Dingen in der quantitativen Hinsicht und leider viel zu wenig in qualitativer Hinsicht. Wir haben uns viel zu wenig Gedanken gemacht über die Rahmenbedingungen von PädagogInnen und Kindern in den Krippen und Kindergärten. Und da beobachte ich ein großes Nord-Süd-Gefälle, weil es in Deutschland immer noch von der Finanzkraft einer Kommune und den Ansichten eines Bürgermeisters abhängt, wie Kinder sich in den ersten Lebensjahren entwickeln. So können die Pädagogischen Fachkräfte die hohen Ansprüche an die KiTa oftmals nicht vollständig umsetzen oder nur auf Kosten ihrer eigenen Gesundheit. Hier hilft nur ein Bundesqualitätsgesetz mit einheitlichen und kontrollierbaren Rahmenbedingungen. Dabei dürfen wir uns allerdings nicht an den schlechtesten Standards orientieren, sondern an den besten. Im europäischen Standard wird eine Fachkraft-Kind-Relation von 1:3 bei unter 3jährigen und von 1:8 bei 3-6jährigen Kindern angegeben. Das ist insbesondere auch im Hinblick auf die Aufnahme von Kindern mit Fluchterfahrung ein absolut notwendiger Standard.

  • An welcher Stelle sehen Sie darüber hinaus dringlichsten Handlungsbedarf?

Die Kita ist die erste Sozialisationsinstanz außerhalb der Familie und hier trifft sich die Welt. ErzieherInnen haben jetzt über Jahre schon Erfahrungen gewonnen im Umgang mit Diversity und unterschiedlichen kulturellen Herkünften. Wenig Erfahrung gibt es allerdings im Umgang mit traumatisierten Kindern und da haben wir einen akuten Handlungsbedarf.
Grundsätzlich brauchen wir im Hinblick auf die Betreuung von unter dreijährigen Kindern einen Marshallplan, um den Herausforderungen hier begegnen können. Viele Pädagogische Fachkräfte sind viel zu wenig vorbereitet auf den Umgang mit den Kleinsten und so wird zum Beispiel oftmals auch die pädagogische Bedeutung von Pflegesituationen maßlos unterschätzt. Die Bedürfnisse von Kindern unter drei sind teils grundverschieden von denen der 3-6jährigen und das gilt im Krippenbereich selber natürlich auch für die unterschiedlichen Bedürfnisse von 1- oder 2jährigen. Um diesen gerecht zu werden brauchen wir hervorragend qualifizierte oder weitergebildete Fachkräfte und natürlich auch die notwendigen Rahmenbedingungen in Bezug auf Personalschlüssel, Raumangebot, -gestaltung usw.

  • Sie sehen das System der frühkindlichen Bildung insgesamt als chronisch unterfinanziert an. Wie kann Politik davon überzeugt werden, die erforderlichen Ressourcen tatsächlich zur Verfügung zu stellen?

Experten haben ausgerechnet, dass im deutschen Frühkindlichen Bildungssystem rund 10 Milliarden Euro jährlich fehlen. Ich glaube, wie brauchen einen Bildungssoli, wo Länder, Kommunen und Wirtschaft einzahlen, um mit einem Gutscheinsystem den Kindern in vernünftigen Rahmenbedingungen überall die gleichen Chancen zu geben. Das kann nur in einer konzertierten Aktion geschehen, in der Bildung auch zur Chefsache wird. Da sehe ich im Moment aber wenig Licht am Horizont und ich fürchte, dass Politik erst reagiert wenn wir einen noch viel größeren Fachkräftemangel haben und das System uns in Teilen um die Ohren fliegt.
Leider haben wir für den Bildungsbereich, der eigentlich vom Kopf auf die Füße gestellt werden müsste, schon nichts getan als wir noch Geld hatten. Ich fürchte, dass wir nun zehn heillos unterfinanzierte Jahre vor uns haben werden. Wenn wir allerdings nicht für bessere Rahmenbedingungen in der Bildung sowie für eine bessere Qualifikation des Personals und ein besseres Weiterbildungsangebot sorgen, mache ich mir große Sorgen um dieses Land - denn Bildung ist auch der Schlüssel zum wirtschaftlichen Erfolg eines Landes. Bildung ist Zukunftspolitik, ist Wirtschaftspolitik und Arbeitsmarktpolitik. Stattdessen produzieren wir zur Zeit Bildungsungerechtigkeit. Wir sind in Deutschland immer nur gewohnt zu reagieren und zu reparieren und nicht präventiv zu denken. Wir geben viel zu viel für soziale Sicherungssysteme aus und viel zu wenig für frühkindliche Bildung und damit für Prävention. Wir haben das höchste Kindergeld in Europa und die schlechteste Infrastruktur für frühkindliche Bildung.

  • Kommen wir von den Rahmenbedingungen zu den pädagogischen Fragen. Hier ist unter dem Stichwort der Inklusion sicherlich der Umgang mit kultureller und individueller Vielfalt eine der zentralen Herausforderungen. Wie gut sind unsere KiTas darauf vorbereitet und wo sehen Sie wegweisende Modelle?

Es gibt sehr gute Beispiele für den Umgang mit Kindern mit Behinderungen und auch mit DiversityDiversity|||||Im Deutschen wird der Begriff auch auch als Vielfalt benutzt und meint besonders, dass soziale Vielfalt konstruktiv genutzt wird. Im Diversity Management wird besonders auf eine positive Wertschätzung der individuellen Verschiedenheit eingegangen, um eine produktive Gesamtatmosphäre zu erreichen., aber zur Zeit wird das Thema der Inklusion noch viel zu wenig in seiner ganzheitlichen Dimension gesehen. Darauf sind die Fachkräfte noch viel zu wenig vorbereitet und die Rahmenbedingungen noch viel weniger. Bei der Inklusion haben wir es im Moment eher mit einem Etikettenschwindel als mit der Realität zu tun. Problematisch ist auch, dass große Stiftungen wie Bertelsmann oder Bosch sich schon wieder anderen Themenfeldern zuwenden und der Inklusion damit ein entscheidender Motor fehlt. Ich prophezeie, dass es hier zu einer großen Burnout-Welle unter den Pädagogischen Fachkräften und auch LehrerInnen kommen wird.

  • Was sind für Sie abgesehen von den Rahmenbedingungen die pädagogischen Grundlagen von Inklusion?

Entscheidend ist die Haltung, und nicht nur die Haltung von PädagogInnen, sondern auch von Politik und der ganzen Gesellschaft. Das ganze Thema der Haltung, der Empathie und Feinfühligkeit kommt viel zu kurz, auch in der Ausbildung.

  • Bleiben wir kurz beim Thema Haltung und Beziehungsgestaltung: Diese zieht sich auch durch die Diskussionen hier auf dem Kongress Bewegte Kindheit wie auch im gesamten pädagogischen Feld. Worauf kommt es denn da Ihrer Meinung nach an?

Ich würde in Einstellungsgesprächen und Assesments sehr genau die Haltung der BewerberInnen zu Kindern beobachten und die Feinfühligkeit und Empathie abfragen. In dem, wie ich einem Kind begegne, offenbare ich mich. Erziehung und Bildung ist auch immer Bindungs- und Beziehungsarbeit. Es geht zur Zeit viel um Wissens- und Kompetenzvermittlung, aber auf die Haltung wird viel zu wenig geachtet. Feinfühlige und empathische Erfahrungen in der frühen Kindheit tragen ein Leben lang. Wenn ich an meine Lehrer denke, gibt es da welche, die sind für mich bis heute Vorbild und Maßstab. Gerade in einer Welt, die von starken Umbrüchen geprägt ist, müssen wir den Kindern vor den Flügeln auch Wurzeln geben und die wachsen aus sicheren Bindungen und gute Beziehungen.

  • Zum Schluss die Frage, wie Sie die Bedeutung dieses 10. Kongresses Bewegte Kindheit einschätzen, der ja auch aufzeigen möchte, wie Spiel, Sport und Bewegung zur Chancengerechtigkeit und zur Inklusion beitragen können.

Spiel, Sport und Bewegung sind ganz entscheidende Faktoren in der frühkindlichen Bildung. Allerdings sind sie im öffentlichen DiskursDiskurs|||||Der Begriff Diskurs kann verschiedene Bedeutungen haben, wurde ursprünglich jedoch als  „hin und her gehendes Gespräch“ verwendet. Weitere Bedeutungen sind: theoretische Erörterung, systematische, methodische Abhandlung, gesellschaftliche Auseinandersetzung, Erörterung. Sinnverwandt sind auch Debatte, Diskussion, Disput.  etwas von den kognitiven Bildungsbereichen wie zum Beispiel MINT in den Hintergrund gedrängt worden. Aber immer mehr Kitas werden zugleich zu Bewegungs-KiTas, weil die Pädagogischen Fachkräfte genau wissen, wie gut sich diese Trias eignet, um die individuellen Stärken und Ressourcen einen jeden Kindes heraus zu kitzeln und ihr Selbstwirksamkeits- und damit ihr Selbstwertgefühl zu stärken. Und das ist hier in besonderer Weise unabhängig vom sozialen Status und dem elterlichen Bildungshintergrund möglich.
Ich sehe den Kongress aber auch als einen politisch wirkenden Kongress mit politischer Prominenz. Hier werden wichtige Debatten rund um die Zukunft der frühkindlichen Bildung geführt und durch Positionspapiere zum Ausdruck gebracht. Darüber hinaus ist der Kongress aber auch für drei Tage ein Ort, wo ErzieherInnen - die ihre Aufgabe unter den derzeitigen schlechten Rahmenbedingungen übrigens unter größtem Einsatz hervorragend lösen - das Gefühl bekommen, dass sie wahrgenommen und wertgeschätzt werden, dass man ihre Belastung erkennt und sie Unterstützung bekommen.